Stuttgart - Es ist das schiere Glück, was der Zuschauer in diesen 75 Minuten seiner Existenz erleben kann: Es ist Zauber, es ist Überraschung, es ist Freude, es ist Spaß, es ist Schönheit, es ist Drama, es ist die kleine Kunst im Großen und die große Kunst im Kleinen. Es ist, je nach persönlicher Disposition, an einigen Stellen schiere Überwältigung. Und, davor sei immerhin gewarnt: Es ist auch traurig. Man mag nicht ausschließen, dass dem einen oder anderen Gast des Abends zwischendurch auch eine Träne die Wange herunterkullert (dem Berichterstatter ist es jedenfalls so ergangen). Das alles und mehr ist „Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind“, ein „Theaterparcours“ von Staatsoper, Stuttgarter Ballett und Schauspiel Stuttgart, zu erleben dieser Tage.
Es ist vor allem ein Lebenszeichen. Seit Mitte März waren die Türen von Großem und Kleinem Haus und aller sonstigen Spielstätten für die Zuschauer verschlossen; das Coronavirus erzwang den Abbruch der laufenden Saison. Übrigens blieben nicht nur die Zuschauer vom Theater ausgesperrt, auch jeder Probenbetrieb musste eingestellt werden. Auch die Schüler der Cranko-Schule wurden heimgeschickt zu ihren Familien in aller Welt. Natürlich machten Schauspiel, Oper, Ballett und Staatsorchester das, was alle Theater dieser Welt ab Mitte März taten: Sie stellten emsig digital ein Video nach dem anderen für die Zuschauer in ihren Home-sweet-Homes zur Verfügung. Doch ob diese digitalen Angebote in all ihrer Pracht und Herrlichkeit wirklich Theater sind und letztlich nicht doch einfach nur Digi-Gedöns, darüber lässt sich seitdem trefflich streiten.
Zwölf Stationen wollen erlebt sein
Ach was, der Streit ist nun entschieden – seit eben diesem Theaterparcours! Das Theater hat wieder geöffnet, wenn auch nur unter den strengen Auflagen der fortbestehenden Corona-Hygieneregeln. Deswegen ist „Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind“ immer nur in kleinen Gruppen zu erleben, jeweils zu viert. Der Start ist bei den Kassen des Schauspielhauses. Zur vorher fest gebuchten Zeit, irgendwann zwischen 18 und 21 Uhr, geht es los. Ein netter Mensch vom Theater begrüßt das Quartett, er wird die nun anstehende Wanderung führen (und sobald die innere Eingangstür durchschritten ist, darf der Gast auch seine Maske abnehmen).
Was immer man sich zuvor unter „Theaterparcours“ vorgestellt haben mag – das hier ist zweifellos etwas komplett anderes. Burkhard C. Kosminski, der Intendant der Schauspielsparte, hat hier in den Theatergebäuden ein großes Gesamtkunstwerk geschaffen. Zwölf Stationen wollen erlebt sein, sie sind verteilt keineswegs nur auf die Bühnen und die Foyers. Es geht tief hinab und hinein in die Häuser, über Treppen und Stiege, durch kleine Studios und große Hallen. Die allermeisten Besucher werden ihre Theater überhaupt das allererste Mal so erleben. Es ist im besten Sinne ein Abenteuer.
Alle spielen, alles spielt
Schon nach der dritten Station hat man jede Orientierung verloren. Große und kleine Türen gehen auf, Wände verschieben sich, Licht scheint auf oder erlischt. Es geht vorbei an Kisten und Kästen, an heilen und an kaputten Stühlen, an Zeichen und Schriften. Und mittendrin in diesem Zauberreich Musik, Tanz, Gesang, Text, Spiel. Trommeln dröhnen, Bässe wummern, Bilder scheinen auf, Spiegel werden durchsichtig, feiner Gesang von irgendwoher. Alle spielen. Alles spielt.
Nein, genauer möchte man hier nicht werden. Es wäre schade um jede Überraschung, die man einem Zuschauer nehmen würde. Und für alle anderen, die Allzu vielen, die das alles nie werden sehen können, weil die Kartenzahl nur so klein ist, wäre eine genauere Beschreibung geradezu gemein. Nur so viel sei verraten: Es ist eigentlich alles dabei, von Shakespeare über Büchner und Beckett bis Bernhard; es gibt Cranko, Clug und Novitzky, es gibt Wagner, Brahms, Mussorgski und Purcell. Am Anfang der Wanderung überlegt man immer noch, ob einem zum gerade Erlebten auch der richtige Name des Komponisten, Dichter oder Choreografen einfällt. Aber irgendwann hört man auf mit diesem Schulunterricht. Man muss das alles nicht sofort zuordnen und für sich erklären können. Es steht für sich. Es ist der reine, für nichts in der Welt zu begründende und mit Freude erfüllende Genuss.
Der Künstler braucht den Zuschauer
Viele Gäste dieses Parcours werden ihr Staatstheater auch erstmals als eine große Produktionsstätte erleben. Hinter der Bühne, in den langen Gassen erleben wir uns wie in einer Fabrik. Aber hier werden eben keine Waren für den mittelfristigen Verbrauch produziert, sondern die Kunst für den Augenblick, für das analoge Hier und Jetzt. Das ist die große Corona-Lehre dieses großen Abends: Der Künstler braucht den Zuschauer, der Zuschauer braucht den Künstler. Das ist die ganze Magie, der schöne Reichtum.
Und noch eine Lehre haben diese 75 Minuten: Ja, das Publikum sehnt sich gerade riesig zurück nach seinem Theater. Aber andersherum ist es ganz genauso: Das Theater sehnt sich unglaublich nach seinem Publikum. Corona, weiche!