Die Medien in der Türkei wurden schon immer gegängelt, aber noch nie sei die Lage so dramatisch gewesen wie jetzt, sagt Orhan Erinc, Direktor der Cumhuriyet-Stiftung. Wer es wagt, die Regierung zu kritisieren, müsse die völlige Auslöschung befürchten.

Ankara - Luftverschmutzung, Krieg im Südosten, Drogensucht, grassierende Korruption – auf einer Veranstaltung der internationalen Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) in Istanbul zählte deren türkischer Vertreter Erol Önderoglu kürzlich einige wichtige Themen auf, die im Mainstream-Journalismus der Türkei praktisch nicht mehr vorkommen. Die meisten Menschen in der Türkei erführen nur noch, was die Regierung erlaube. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kontrolliere im Zuge des derzeitigen Ausnahmezustands einen Großteil der relevanten Nachrichtenmedien in der Türkei, erklärte die internationale Journalistenorganisation, als sie vor zwei Wochen eine neue Liste der „Feinde der Pressefreiheit“ vorstellte.

 

„Die Pressefreiheit existiert praktisch nicht mehr“

Die Medien in der Türkei wurden schon immer gegängelt, aber noch nie sei die Lage so dramatisch gewesen wie jetzt, sagt Orhan Erinc, der 80-jährige Direktor der Cumhuriyet-Stiftung, die seit ihrer Gründung 1924 die älteste und wichtigste Tageszeitung der Türkei herausgibt. „Die Pressefreiheit in der Türkei existiert praktisch nicht mehr.“ Wer es wie Cumhuriyet wage, die Regierung zu kritisieren, müsse die völlige Auslöschung befürchten. Nicht einmal nach dem Militärputsch von 1980 sei die Regierung so rigoros gegen abweichende Stimmen in den Medien vorgegangen.Das offensichtlichste Unterdrückungsinstrument ist die Verhaftung von mehr als 100 Journalisten seit dem versuchten Staatsstreich vom 15. Juli dieses Jahres, meist unter dem Vorwurf, den Terrorismus zu unterstützen.

Tatsächlich reicht es in der Türkei jetzt schon, die falschen Leute zu interviewen, um unter diesen Verdacht zu geraten. Laut der unabhängigen türkischen Medienplattform P24 sitzen derzeit 144 Journalisten in Haft, mehr als in jedem anderen Land der Erde. Insgesamt 186 Medienorganisationen wurden seit dem gescheiterten Putsch per Notstandsdekret geschlossen, vor allem aus dem Umkreis der Bewegung des Islampredigers Fethullah Gülen, den Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht.

Selbstzenszur aufgrund des wirtschaftlichen Drucks

Aber auch viele Sender und Zeitungen des linken Spektrums, von kurdischen und anderen Minderheiten wurden verboten. Ein subtileres, aber ebenso effektives Druckmittel ist die Selbstzensur der türkischen Medien aufgrund wirtschaftlichen Drucks. Die meisten Medien und Verlage in der Türkei gehören zu branchenfremden Wirtschaftsholdings, die auf Regierungsaufträge etwa im Bausektor angewiesen sind und deren Redakteure sich deshalb freiwillig der Zensur unterwerfen und regierungsfreundlich berichten.

Auf der ROG-Skala der Pressefreiheit stand die Türkei bereits vor dem Militärputsch auf Platz 151 von 180 Ländern , noch hinter Russland und Pakistan. Sie dürfte inzwischen noch weiter abgesackt sein. Im Fernsehen, über das sich die Hälfte der Türken fast ausschließlich informieren, existiert de facto keine kritische Berichterstattung mehr, seit die letzten oppositionellen Sender im Oktober geschlossen oder vom Satelliten abgeschaltet wurden.

Öffentlich für eine Freilassung eingesetzt

Selbst die verbliebenen pseudo-liberalen Kanäle mit teils ausländischen Kapitalgebern geraten zunehmend unter Druck. Der berüchtigte regierungsnahe Kolumnist Cem Kücük forderte am Sonntag die Entlassung des beliebten Fox-Anchorman Fatih Portakal, weil dieser sich öffentlich für die Freilassung eines verhafteten Kollegen eingesetzt hatte. Der kleine Sender Halk-TV, der der größten, kemalistisch-sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP nahesteht, ist die letzte oppositionelle Stimme im Fernsehen und genießt noch einen gewissen Schutz, solange die CHP als eigenständige Kraft existiert.

Aus jahrzehntelanger Verbundenheit stellt sich die CHP jetzt auch vor die bedeutende Zeitung Cumhuriyet, die sich von einem kemalistischen zu einem linksliberalen Blatt ähnlich wie die französische Libération entwickelte. Am ihrem Fall wird sich entscheiden, ob in Zukunft überhaupt noch unabhängige Stimmen in der türkischen Presse zu vernehmen sein werden. Fällt Cumhuriyet, werden auch die restlichen Oppositionszeitungen fallen: das auflagenstarke kemalistische Boulevardblatt Sözcü, die kemalistische Yurt, die kleinen linken Blätter BirGün und Evrensel.

Vorsichtige Kritik

Große Namen der türkischen Presse sind nur noch ein Schatten ihrer selbst, seit sie von Erdogan-Freunden gekauft wurden, wie Sabah und Milliyet, oder unter existentiellem Druck stehen, wie die größte türkische Tageszeitung Hürriyet, die sich noch immer vorsichtige Kritik erlaubt. Wie umfassend die staatliche Repression wirkt, erfuhr ROG selbst, als ihr Türkei-Vertreter Erol Önderoglu im Juni noch vor dem gescheiterten Putsch wegen einer Solidaritätsaktion für die prokurdische Zeitung Özgür Gündem verhaftet wurde. Inzwischen ist er wieder auf freiem Fuß, aber wegen „Terrorpropaganda“ angeklagt und wie zwei Mitangeklagte mit einer Gefängnisstrafe von bis zu 14 Jahren bedroht. Wie in seinem Fall hatten Regierung und Justiz schon lange vor dem Putschversuch einen scharfen Kurs gegen kritische Medien begonnen, der darauf hinauslief, sie gleichzuschalten oder zu schließen.

http;//www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.pressefreiheit-in-der-tuerkei-kein-bonus- fuer-ankara.520722c1-605c-40c3-9ac8-034f18061217.html