Warum der Profi des VfB Stuttgart nicht nur das Spiel mit dem Ball beherrscht – und auch am Computer Erfolge als Fußballer feiert.

Sport: Gregor Preiß (gp)

Stuttgart - In der elektronischen Welt des Fußballs haben sich die Maßstäbe verschoben. 1899 Hoffenheim, FC Augsburg, SC Freiburg und der SV Darmstadt 98 sind plötzlich das Maß aller Dinge und nicht mehr die Seriensieger aus München oder die Ballkünstler von Borussia Dortmund. Auch der VfB Stuttgart zählt plötzlich wieder zu den deutschen Topteams.

 

Die Bundesliga Home Challenge macht’s möglich. Ein von der Deutschen Fußball Liga (DFL) ins Leben gerufener Demonstrationswettbewerb zur Überbrückung der fußballfreien Zeit. Also der echten fußballfreien Zeit. Vor den Bildschirmen dagegen wurde vor den Augen einer wachsenden Öffentlichkeit zuletzt per Spielekonsole umso mehr getrickst, geballert und gejubelt.

Einer der besten Profifußballer an der Konsole

An vorderster Front dabei: Atakan Karazor vom VfB Stuttgart. Der 23-Jährige hat sich erst teamintern qualifiziert und dann seine Mannschaft beim Bundeswettbewerb am Bildschirm vertreten – und das äußert erfolgreich. Mit vier Siegen aus fünf Spielen bewies Karazor, dass er Gefühl nicht nur in den Füßen, sondern auch in den Fingern hat. Karazor ist Stuttgarts König an der Konsole. Einzig an Nico Schlotterbeck biss er sich die Zähne aus – der Freiburger setzte sich gemeinsam mit Hoffenheims Stürmer Munas Dabbur die Krone auf. „Die beiden sind brutal gut, erste Sahne“, lobt Karazor seine Gegenspieler, denen er frühestens in der kommenden Spielzeit auch von Angesicht zu Angesicht begegnen wird – falls die Rasenfußballer des VfB dann aufgestiegen sind.

Solange aber nicht gespielt wird – also bis mindestens 15. Mai – dominiert weiter die virtuelle über die reale Fußballwelt. Konsolenspiele wie Fifa 20 erfahren derzeit einen Boom. Bis zu zwei Millionen Menschen verfolgten die Spiele der Bundesliga Home Challenge an den Monitoren. Die weltweit agierende eSport-Liga ESL berichtet gar von einer Vervierfachung der Zuschauerzahlen, seit die real existierende Sportwelt wegen Corona zum Erliegen gekommen ist. Zwar ist man in Europa noch weit von asiatischen Verhältnissen entfernt, wo sich Wettkämpfe an der Spielekonsole auf dem Weg zum Volkssport befinden. Doch der Trend zeigt auch hierzulande in eine klare Richtung. „Esports wird eine große Zukunft haben“, prophezeit Atakan Karazor.

Wettkampf als ausgleichender Effekt

Mit sieben Jahren hat sich der Deutsch-Türke aus dem Ruhrgebiet erstmals mit seinem Bruder an der Playstation duelliert; zu einer Zeit, als man noch von Computerspielen sprach. Heute sind die Fußballsimulationen am Bildschirm kaum mehr von echtem Spiel mit dem Ball zu unterscheiden, Fußballprofi Karazor ist selbst Teil der neuen virtuellen Fußballwelt. In der es – eine weitere Parallele zum Spektakel auf dem Rasen – längst nicht nur um Tricks und Tore geht, sondern auch darum, das Publikum bestmöglich zu unterhalten. Neben der Konsole hat Karazor stets das IPad bereitliegen, um parallel im Youtubekanal Kommentare zu seinem Spiel zu lesen und selbst zu verfassen. It’s Showbusiness.

Lesen Sie hier ein Porträt über Atakan Karazor

Für den Moment hat der Zeitvertreib im heimischen Wohnzimmer – an Spitzentagen sitzt Karazor bis zu drei Stunden am Spielgerät – für den Defensivspezialisten auch einen ausgleichenden Effekt. „Es ist echter Wettkampf“, sagt der vor der Saison aus Kiel nach Stuttgart gewechselte Profi. Also jener Mix aus Anstrengung, Nervenkitzel und Emotion, der sämtlichen Akteuren seit Wochen auf Grund der Corona-Beschränkungen abgeht. Zur Erinnerung: Trainiert werden darf noch immer nur ohne Körperkontakt. So hat es in den vergangenen Wochen auf dem Clubgelände nicht mal für ein lockeres Trainingsspielchen gereicht.

Die Wettkampf-Simulation vom Sofa aus taugt immerhin der geistig-körperlichen Ertüchtigung. „Bei manchen Spielen bin ich schon nach einer halben Stunde richtig erschöpft“, erzählt der 1,90 Meter Hüne. Das kommt dann echtem Sport ziemlich nahe. Nach Meinung von Wissenschaftlern sind ESportler in Bezug auf Kalorienverbrauch und Herz-Rhythmus-Frequenz richtige Athleten. Weshalb die Glaubensfrage, ob es sich beim Daddel-Sport nicht auch um richtigen Sport handelt, immer wieder neu diskutiert wird. „Die Grenzen werden weiter verschwimmen, glaubt Karazor.

„Trainer, ich spiele mir schon keine viereckigen Augen“

Nur die Vorbereitung auf den Computer-Fußball ist eine andere: Zum Start gönnt sich Karazor meist einen Energy-Drink. Weshalb VfB-Coach Pellegrino Matarazzo schon die Frage an ihn gerichtet hat, ob er sich nicht Sorgen machen müsse. „Trainer, ich spiele mir schon keine viereckigen Augen“, lautete die Antwort. Und natürlich ist die Replik auf die Frage klar, welche Art von Sport der Wandler zwischen analoger und digitaler Welt letztlich bevorzugt: „Es gibt nichts Schöneres als Fußball.“

Den auf dem Rasen, wohlgemerkt.