Nicht jeder Tumor in der Prostata muss operiert oder bestrahlt werden. Bei niedrigem Risiko sind Abwarten und regelmäßige Kontrollen die bessere Wahl. Doch wie hoch das Risiko ist, ist zuweilen schwer zu entscheiden.

Stuttgart - Jährlich erkranken mehr als 60 000 Männer an einem Prostatakrebs, jeder fünfte Betroffene stirbt daran. Wer erkrankt, steht vor der schweren Frage: Wie behandeln lassen? Absolut verlässliche Werte, die den richtigen Weg aufzeigen, gibt es derzeit noch nicht.

 

Bei manchen Patienten schreitet der Krebs sehr schnell fort, ist aggressiv. Dann wird operiert. Im medizinischen Fachjargon heißt der Eingriff radikale Prostataektomie. Nur etwa 60 Prozent der Operierten haben Aussicht auf Heilung. Andere Betroffene haben einen weniger bösartigen Tumor, er wächst nur sehr langsam und ist lokal begrenzt. Das Risiko, dass der Tumor andernorts Tochtergeschwülste bildet, ist nur gering. Diese Niedrig-Risiko-Karzinome machen inzwischen etwa 50 Prozent aller Neuerkrankungen aus, weil die Karzinome früher entdeckt werden. Gerade bei ihnen stehen Arzt und Patient vor der schwierigen Entscheidung: operieren, bestrahlen oder aktiv überwachen?

Beim aktiven Überwachen (meist auf Englisch „active surveillance“ genannt) werden alle drei bis sechs Monate die Prostata rektal abgetastet und der PSA-Wert bestimmt (siehe 2. Seite). Laut Oliver Hakenberg, Direktor der Klinik für Urologie am Universitätsklinikum Rostock und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Urologie, ist das Niedrigrisiko-Karzinom wie folgt definiert: der PSA-Wert ist kleiner als 10 und der Gleason-Score, der das Ausmaß der Zellveränderung angibt, liegt bei maximal 6. „Wenn weiterhin die rektale Untersuchung nicht auf einen großen Tumor schließen lässt und bei der Gewebeentnahme mindestens 10 bis 12 Stanzzylinder entnommen wurden und nicht mehr als 2 positiv sind, kann man von einer kleinen Tumorgröße ausgehen“, sagt Hakenberg.

Mögliche Nebenwirkungen: Inkontinenz und Impotenz

Besteht der Verdacht, dass die Krebserkrankung fortschreitet, werden Gewebeproben entnommen. Danach wird möglicherweise doch operiert oder bestrahlt. „Aber in der Vorlaufzeit können die Patienten unbehelligt von den Folgen der OP oder Bestrahlung leben“, so der Urologe Lothar Weißbach, wissenschaftlicher Vorstand der Stiftung Männergesundheit. Das Hauptrisiko einer aktiven Überwachung besteht aber darin, dass die Erkrankung fortschreitet und nicht rechtzeitig operiert wird. Außerdem kann nicht jeder Mann mit dem Wissen um eine „Zeitbombe“ in seiner Prostata leben. Die OP kann andererseits jedoch gravierende Nebenwirkungen haben. „Bei fast zehn Prozent tritt dauerhaft unfreiwilliger Urinabgang, also eine Harninkontinenz auf“, sagt Hakenberg.

Zunächst einmal machen alle Männer in der ersten Zeit nach der Operation eine Phase der Inkontinenz mit. Das kann bis zum Ende der Reha, aber auch bis zu einem Jahr andauern. „Die Dauer hängt davon ab, wie schnell die Männer lernen, wie sie ihren Schließmuskel kontrollieren können“, so Hakenberg. Das größere Problem sei aber ein anderes: „Die meisten operierten Männer werden infolge der OP impotent.“ Es ist ein echtes Dilemma.

Weißbach ist der Meinung, dass beim Niedrigrisiko-Karzinom zu oft operiert wird. Die aktive Überwachung sei für die Mehrzahl der Patienten mit Niedrig-Risiko-Karzinom die bessere Therapieoption. Er verweist auf die jüngst von ihm als Studienleiter auf dem Kongress der Europäischen Urologenvereinigung (EAU) in Stockholm präsentierten, vorläufigen Ergebnisse der HAROW-Studie. Diese Studie untersucht, wie Patienten mit einem lokal begrenzten Prostatakarzinom behandelt werden und wie die alltägliche Versorgung in der Praxis ist. „Die Ergebnisse deuten an, dass die aktive Überwachung von Urologen und Patienten gut angenommen wird und die Methode qualitativ gut im ambulanten Bereich durchführbar ist“, sagt Weißbach.

3000 Patienten wurden in 262 Praxen in Deutschland rekrutiert und ihre Erkrankungsverläufe dokumentiert. Bei jedem sechsten Patienten wählten die Urologen die aktive Überwachung. Im Durchschnitt hatten es die Ärzte knapp zwei Jahre mit einem Patienten zu tun. In dieser Zeit wurde bei 40 Prozent der aktiv überwachten Patienten zur Kontrolle eine Gewebeprobe entnommen und von ihnen wurden fast 75 Prozent dann doch operiert oder bestrahlt, weil die Krankheit fortgeschritten war.

Heikle Unterscheidung zwischen hohem und niedrigem Risiko

Hakenberg hält den Zeitraum von knapp zwei Jahren für zu kurz, um weitreichende Schlüsse daraus zu ziehen. „Man weiß ja gar nicht, ob diejenigen mit Active Surveillance nicht doch 10 Jahre später am Prostatakarzinom versterben werden. Es sind eigentlich 10 bis 15 Jahre Nachbeobachtung nötig“, kritisiert er. Das sieht auch der Urologe Arnulf Stenzl, Direktor der Klinik Urologie am Universitätsklinikum Tübingen so. „Insbesondere bei Patienten mit guter Prognose ist eine lange Nachbeobachtungszeit wichtig.“ Weißbach entgegnet, dass die HAROW-Studie nicht den Nutzen der Therapie untersucht habe, sondern die Versorgung der Patienten. Stenzl kritisiert zudem, dass die 3000 Teilnehmer aus ausgewählten Urologenpraxen nicht die Realität wiedergeben: „Jährlich erkranken schließlich 60 000 Männer in Deutschland an Prostatakrebs.“ Die Stichprobe ist ihm zu klein, er hätte sich mehr teilnehmende Praxen gewünscht.

Ein Problem der aktiven Überwachung besteht darin, dass nur 60 Prozent der Patienten korrekt der Niedrig-Risiko-Gruppe zugeteilt werden. Denn mittlerweile treten auch bei einem PSA-Wert unter 10 größere Tumore auf. Ein weiterer Schwachpunkt der Einteilung in Niedrig- und Hoch-Risiko-Karzinome betrifft die Biopsie: „Eine Unsicherheit ergibt sich, weil unklar ist, ob das entnommene Gewebe aus dem Zentrum des bösartigen Tumors stammt“, warnt Stenzl. Der Gleason-Wert lasse sich genauer bestimmen, wenn die Stanzbiopsien computergesteuert entnommen werde. „Wir brauchen ein standardisiertes Vorgehen, um die Biopsiequalität zu verbessern“, sagt Stenzl. „Es ist nur eine Frage der Zeit bis sich dabei auch robotergestützte Systeme durchgesetzt haben.“

Diese Vorgehensweise hätte den Vorteil, dass die Entnahmepunkte genau gespeichert werden könnten. Bei einer erneuten Untersuchung nach sechs Monaten könnte man dann genau an den alten Biopsiepunkten wieder Gewebe entnehmen und die Daten vergleichen. „Es ist außerdem wichtig, dass wir bald bessere Parameter haben, die aufzeigen wie sich der Tumor entwickelt, als es derzeit der Fall ist“, sagt Stenzl. „Dann ist es möglich, mit größerer Treffsicherheit die Patienten der richtigen Therapie zu zuordnen.“

Was sagt der PSA-Wert aus?

Untersuchung
Das prostataspezifische Antigen, kurz PSA, wird von der Prostata produziert und kann im Blut nachgewiesen werden. Der PSA-Wert wird bei der Diagnose eines Tumors berücksichtigt. Doch Arnulf Stenzl von der Uniklinik Tübingen warnt: Ein erhöhter PSA-Wert weise nicht direkt auf einen Tumor hin.

Faktoren
Fünf Punkte beeinflussen die Höhe des PSA-Wertes: die Größe der Prostata, Entzündungen in der Prostata, mechanische Verletzungen, angeborene Veränderungen und ein Tumor. „Wenn der PSA-Wert erhöht ist, dann muss man die vier anderen Punkte ausschließen, um zu zeigen, dass ein Tumor die Ursache für die Erhöhung ist“, sagt Stenzl. „Dafür muss man auch mit dem Patienten reden und genau nachfragen. Mit einiger Erfahrung ist das alles nicht besonders aufwendig.“

Gewebeprobe
Der PSA-Wert gibt an, wie viele Nanogramm PSA in einem Milliliter Blut sind. Nach Ansicht von Stenzl ist es kaum möglich, einen PSA-Wert festzulegen, anhand dessen sicher ist, dass eine anschließende Gewebeprobe (Biopsie) einen Tumor enthält. „Bei einem wiederholten PSA-Wert über 3 und einer Erwägung zusätzlicher klinischer Faktoren sind heute 40 bis 50 Prozent der Biopsien positiv“, sagt Stenzl. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass zwischen einem PSA-Wert zwischen 3 und 10 bei der Hälfte der Patienten die Gewebeprobe negativ ausfällt – also womöglich unnötig war. „Ich möchte auf den PSA-Wert nicht verzichten“, sagt Stenzl, „aber man darf dem einzelnen Wert nicht zu große Bedeutung beimessen.

Kosten
Auch Oliver Hakenberg von der Uniklinik Rostock findet den PSA-Wert unverzichtbar, denn er kann zumindest einen Hinweis auf den Risikobereich liefern, in dem ein Patient liegt. „Die rektale Untersuchung ist leider eher eine Späterkennungsmethode: Nur Karzinome, die bereits groß genug sind und in Richtung Darm liegen, werden tastbar“, sagt er. Hakenberg kritisiert , dass die Krankenkassen den PSA-Test nicht bezahlen. Unstrittig ist die Relevanz des PSA-Tests bei erkrankten Menschen, da der PSA-Wert dann der beste Wert ist, mit dem sich der Behandlungsverlauf einschätzen lässt. Krebszellen bilden viel mehr PSA als normale Prostatazellen. Die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen in diesem Fall.