Nach dem Rücktritt von Premier Asarow hat das ukrainische Parlament auch die repressiven Gesetze zurückgenommen. Zudem tritt eine Amnestie für angeklagte Aktivisten in Kraft. Doch all das genügt den Demonstranten nicht mehr.

Kiew - Das ukrainische Parlament gleicht am Dienstag einem Abstimmungsfließband: Im Minutentakt liest der Parlamentssprecher die zur Abstimmung stehenden Gesetze vor. Ohne Diskussion und einig wie nie im Verlauf der letzten Jahre stimmen die Abgeordneten von Opposition und Regierungspartei ab: Eins nach dem anderen werden die repressiven Gesetze, die Janukowitschs „Partei der Regionen“ erst vor zwei Wochen per Handzeichen durchs Parlament geboxt hatte und die zu Straßenschlachten im Zentrum der Stadt geführt hatten, zurückgenommen. Über die einzelnen Punkte wird nicht diskutiert, denn allen ist klar: den Versprechen, die Präsident Viktor Janukowitsch am Montag der Opposition gegeben hat, müssen nun Taten folgen.

 

Dazu gehört auch die Überarbeitung der ukrainischen Verfassung, die das Land wieder in eine parlamentarisch-präsidentielle Republik verwandeln soll, was eine deutliche Beschneidung der Präsidentenvollmachten bedeutet. Dass die Verfassung reformiert wird, ist beschlossene Sache, allerdings wird sich die Arbeit an den Veränderungen mindestens bis September 2014 hinziehen. Am Nachmittag kommt das Fließband ins Stocken: Die Verabschiedung der ausgehandelten Amnestie für die während der Proteste angeklagten Aktivisten wird auf Mittwoch verschoben.

Nach dem Rücktritt des Premier: Wer stellt die Regierung?

Das Regime sendet versöhnliche Signale: Nach einer Schweigeminute für die während der Proteste getöteten Demonstranten setzt Premierminister Nikolai Asarow den eigentlichen Paukenschlag: Er reicht seinen Rücktritt ein, was nach der ukrainischen Verfassung gleichzeitig den Rücktritt der Regierung bedeutet. Auch das war eine Kernforderung der Opposition. Der Rücktritt wird am heutigen Mittwoch in Kraft treten, allerdings stellt sich dann die Frage: Wer stellt nun die Regierung? Janukowitsch hatte Vitali Klitschko den Posten eines Vizepremiers, Arseni Jazenjuk den des Premierministers angeboten. Klitschko hat deutlich gesagt, dass er in keine Regierung unter Präsident Janukowitsch eintreten wird, Jazenjuk dagegen signalisierte zuletzt vage die Bereitschaft, „Verantwortung“ zu übernehmen.

Nestor Schufritsch, Abgeordneter der „Partei der Regionen“, schimpft auf die Hasenfüßigkeit der Opposition. „Wir haben alle mit der Opposition getroffenen Vereinbarungen erfüllt. Die Opposition hat vom Präsidenten das Angebot bekommen, die Regierung zu stellen. Aber sie fürchten sich, Verantwortung zu übernehmen“, sagt er. Er geht davon aus, dass auch die nächste Regierung von der „Partei der Regionen“ gestellt wird, da sie über die meisten Parlamentssitze verfüge. Aber Schufritsch glaubt, dass ein künftiger Premierminister sich durch Konsultationen mit den im Parlament vertretenen Parteien die nötige Unterstützung holen und eine Art „Regierung der nationalen Einheit“ bilden wird. Einen Rücktritt des Präsidenten vor den für Anfang 2015 vorgesehenen Wahlen schließt er aus: „Janukowitsch ist der legitime Präsident unseres Landes.“

Die Opposition will weiterverhandeln

Damit bleibt die wichtigste Frage offen. Der harte Kern der Demonstranten auf dem Maidan, der nach zweieinhalb Monaten auf weniger als zehntausend Menschen zusammengeschrumpft ist, hat nach den gewalttätigen Zusammenstößen mit mindestens sechs Todesopfern nur noch eine Forderung: Präsident Viktor Janukowitsch soll zurücktreten. Die Opposition kündigte derweil an, die Verhandlungen mit ihm fortsetzen zu wollen.

Um zu untermauern, dass er noch mit genügend Unterstützung im ganzen Land rechnen kann, hat der Präsident in der Nacht zum Dienstag aus dem Süden und Osten des Landes an die 40 000 Menschen zu einem „Antimaidan“ unweit des Parlaments herankarren lassen. Zu dieser Strategie passt auch das harte Vorgehen gegen Versuche der Oppositionsaktivisten, im Süden und Osten des Landes die Regionalverwaltungen zu besetzen. In den westlichen Gegenden blockieren Protestler seit Tagen die Verwaltungsgebäude. Erneut zeigt sich, dass das Land zweigeteilt ist: Im Westen und im Zentrum haben die nationalistischen und proeuropäischen Ukrainer das Sagen, der Süden und Osten stützt Janukowitsch und eine Politik, die eher die Nähe zu Russland sucht.

Die EU-Vertreter können kaum als neutrale Vermittler auftreten

Auch die Europäische Union versucht im Machtpoker mitzuspielen. Seit Tagen ist eine Gruppe von EU-Parlamentariern unter Leitung des Deutschen Elmar Brok in Kiew, am Dienstag reiste die EU-Außenbeauftrage Catherine Ashton nach Kiew. Als neutrale Vermittler können die EU-Vertreter kaum auftreten: Zu deutlich haben viele ihre Sympathie für die Opposition gezeigt. „Wir sind dankbar für Hilfe von außen, etwa wenn der US-Botschafter sich für  eine Beendigung der Besetzung des Justizministeriums einsetzt“, sagt Wladimir Olejnik, Abgeordneter der „Partei der Regionen“, „aber sie sollten sich nicht einmischen.“

Die Aktivisten werden die Barrikaden kaum räumen

Fraglich ist: Werden die Aktivisten angesichts der Verhandlungserfolge die Barrikaden und die besetzten Regierungsgebäude verlassen? Danach sieht es nicht aus. „Eine andere Regierung? Dann bleibt doch alles beim Alten“, schimpft etwa Viktor, ein maskierter Wächter an einer Barrikade unweit der Präsidialverwaltung. „Der Präsident muss weg, nur dann ändern sich die Dinge“, sagt er. Dann geht er zu seinen Kameraden der „7. Hundertschaft der Selbstverteidigung“ und hilft ihnen, einen haushohen, aus Balken gezimmerten Wachturm hinter der Barrikade aufzustellen.

Eine Fortsetzung der Besetzungen im Stadtzentrum führt allerdings das geplante Amnestiegesetz ad absurdum: Es sieht vor, alle Verfahren einzustellen, die wegen Straftaten ab dem 26. Dezember des letzten Jahres im Zusammenhang mit den Protesten eingeleitet wurden. Eine Amnestie für Straftaten nach Inkrafttreten des Gesetzes schließt es jedoch nicht ein.