Das harte Vorgehen Erdogans gegen seine Kritiker zeigt, wie bedroht er sich auch ein Jahr nach dem versuchten Militärputsch fühlt. Zwar hat er gerade erst eine Verfassungsreform durchgesetzt, die ihm als Präsidenten große Vollmachten gibt. Doch war das Ergebnis des Referendums am 16. April mit offiziell 51 Prozent knapper als erhofft und zudem heftig umstritten. Das zeigt, dass ein großer Teil, wenn nicht gar die Mehrheit der Türken nicht bereit ist, Erdogan noch mehr Macht zu geben. Für Kilicdaroglu war das starke Abschneiden des Nein-Lagers Grund zum Jubel, doch zugleich musste er sich aus der Partei viel Kritik dafür anhören, davor zurückgeschreckt zu sein, seine Anhänger zum Protest auf die Straße zu rufen.

 

Natürlich sei Kilicdaroglu in der Parteiführung umstritten, sagt der CHP-Veteran Gültekin, während über dem Zeltlager an der Landstraße die Nacht hereinbricht. Viele Parteigrößen seien auch gegen den Marsch gewesen, doch die Basis folge Kilicdaroglu. Er selbst sei mit dem Vorsitzenden in vielen Punkten nicht einer Meinung, doch stehe er hinter ihm. „Er ist unbedingt ehrlich und integer, er hört den Leuten zu und geht auf Kritik ein. Er ist ein echter Demokrat“, sagt Gültekin.

Seine eigene Stellung hat der CHP-Vorsitzende gestärkt

Noch ist unklar, was Kilicdaroglu mit dem Marsch politisch bewegen kann, doch seine eigene Stellung hat der CHP-Chef damit bereits deutlich gestärkt. Kilicdaroglu habe sich „mit unverhoffter politischer Agilität endlich in einen Oppositionsführer verwandelt, der tatsächlich die Agenda setzt“, schrieb anerkennend der „Hürriyet“-Kolumnist Kanat Atkaya. Ein Indiz dafür: Statt mit Spott und „ironischen Kommentaren“ reagiere die Regierung inzwischen mit Drohungen.

Kilicdaroglu wolle „die Türkei ins Chaos stürzen“ und agiere als „Sprachrohr von Verrätern“, schimpfte ein Sprecher von Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Offensichtlich sieht die Partei, die das Wort „adalet“ im Namen trägt, es mit wachsendem Unbehagen, dass sie nach 15 Jahren an der Macht bei den Türken einen ungestillten Durst nach Gerechtigkeit hinterlassen hat.