Der Kremlkritiker Alexej Nawalny bleibt vorerst auf freiem Fuß. Aber sein Bruder Oleg muss ins Straflager. Die politische Zukunft des Kreml-Kritikers bleibt offen.

Moskau - Wollte Alexej Nawalny provozieren, oder ist er tatsächlich eine unverwüstliche Frohnatur? Beobachter sind sich uneins, wie sie die Bilder deuten sollen, die den Kremlkritiker nach der gestrigen Urteilsverkündung in Siegerlaune zeigen, denn der Spruch, den Nawalny selbst eine Schweinerei nannte, ist alles andere als ein Sieg. Dreieinhalb Jahre, auf Bewährung zwar, doch daraus könnten insgesamt fünfzehn Jahre Straflager werden, denn der Staatsanwalt hatte für ihn zehn und für seinen Bruder Oleg acht Jahre Haft beantragt und will in Berufung gehen. Setzt er sich in zweiter Instanz durch, werden auch die fünf Jahre Bewährung, die Alexej 2013 kassierte in ein reales Strafmaß umgewandelt – weil er dann als Rückfalltäter gilt.

 

Kritische Beobachter fühlen sich an die Prozesse gegen den kremlkritischen Oligarchen Michail Chodorkowski erinnert. Er hatte die Opposition unterstützt und wurde wegen angeblicher Wirtschaftsverbrechen vor den Kadi gezerrt und verurteilt. Obwohl die Beweislage ähnlich dürftig war wie im Verfahren gegen die Nawalny-Brüder, die sich wegen Veruntreuung und Diebstahl verantworten mussten. Ihre Logistikfirma soll Kunden – darunter die Russland-Tochter von Yves Rocher – durch überhöhte Rechnungen um 30 Millionen Rubel (400 000 Euro) geprellt haben.

Anklage auf schwachem Fundament

Der französische Kosmetikkonzern sah sich zwar keineswegs als Geschädigter. Im Gegenteil: durch den Vertrag mit Nawalnys Zustellservice habe man viel Geld gespart. Die Richterin focht das nicht an, denn der eigentliche Prozessgegenstand waren nicht die Logistikrechnungen, sondern die offenen Rechnungen, die der Kreml mit seinem Widersacher Nawalny hat. Auf einem spendenfinanzierten Internetportal prangert er die krassesten Fälle von Bereicherung und Zweckentfremdung von Staatsgeldern an. Mit vollen Namen und Adressen. Darunter sind auch Freunde von Kremlchef Wladimir Putin.

Vor allem aber war Nawalny Mastermind und einer der Führer der Massenproteste gegen die nicht ganz lupenreinen Parlamentswahlen 2011 und gegen Putins Rückkehr in den Kreml im Mai 2012. Kurz danach wurde ihm der erste Prozess gemacht. Als Berater des Gouverneurs von Kirow soll er den dortigen staatlichen Forstbetrieb zu einem unvorteilhaften Vertrag gedrängt haben. Das Gericht befand ihn für schuldig – trotz miserabler Faktenlage. Zwar wurde im Berufungsverfahren aus Haft Bewährung. Nawalny kandidierte bei der Oberbürgermeisterwahl in Moskau und die sollte, auch um die Fälschungsvorwürfe bei den Dumawahlen 2011 zu entkräften, sauber ablaufen.

Nawalny – die schärfste Waffe der Opposition

Nawalny fuhr mit 27 Prozent das beste Ergebnis für die Opposition in der Ära Putin ein. Das schmeichelte zwar seinem Ehrgeiz, machte aber auch klar, wie begrenzt sein reales Gefährdungspotenzial für das System ist. Moskau ist nicht Russland und auf dem flachen Lande – das beweisen sogar Umfragen kritischer Meinungsforscher – ist er den Menschen gleichgültig. Mit nationalistischen Ausrutschern und Profilierungsneurosen verprellte er sogar den liberalen Flügel der längst implodierten Protestbewegung. Dass sie auf die Mittelschicht in den Großstädten beschränkt blieb, hat Nawalny mit zu verantworten, der Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit ignorierte. Auch deshalb ist schwer nachvollziehbar, warum Russlands Justiz sich erneut dem Vorwurf der Abhängigkeit aussetzt. Um Proteste zu verhindern, hatte das Gericht die Urteilsverkündung vorverlegt. Vor dem Neujahrsfest, so das Kalkül, hätten die Hauptstädter anderes zu tun.