Elf Jahre nach dem Mord an Hatun Sürücü beginnt in der Türkei der Prozess gegen die beiden in die Tat verwickelten älteren Brüder. Bis jetzt wurde nur der jüngste beim Prozess in Berlin verurteilt.

Berlin - Wer vor zehn Jahren im Kriminalgericht Moabit das Lachen der Freigesprochenen gesehen hat, für den scheint der Prozess, der an diesem Dienstag in Istanbul beginnt, wie ein kleines Wunder. Vor Gericht müssen sich Alpaslan (36) und Mutlu Sürücü (35) verantworten – sie sind angeklagt, gemeinschaftlich den so genannten Ehrenmord an ihrer Schwester Hatun Sürücü am 7. Februar 2005 in Berlin geplant zu haben. Allein die Anklage in der Türkei ist eine Art späte Genugtuung für das deutsche Rechtssystem. Denn die Akte Sürücü ist hierzulande noch nicht geschlossen.

 

Für den Mord war 2006 nur der kleinste Bruder des Opfers zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt worden – die beiden älteren wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Zwar hob der Bundesgerichtshof die Freisprüche auf. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die beiden aber in die Türkei abgesetzt. Überraschend eröffnete dann die türkische Staatsanwaltschaft 2013 ein Verfahren wegen der Tat, die 2005 Deutschland erschüttert hatte: Hatun Sürücü war 23 Jahre alt, als sie an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof, ganz nah bei ihrer Wohnung aus kurzer Distanz erschossen wurde. Der Mord hatte – mit einiger Verzögerung – eine Debatte über Zwangs- und arrangierte Ehen und über Femetaten, deren Opfer muslimische Frauen hier in Deutschland werden, ausgelöst.

Sie suchte den Kontakt zu ihrer Familie

Hatun Sürücü wuchs in Berlin als eines von neun Kindern in einer traditionell patriarchalisch geprägten Familie auf. Mit 15 wurde sie gezwungen, in der Türkei ihren Cousin zu heiraten. Sie flüchtete wenig später aus dieser Ehe und kam schwanger nach Deutschland zurück. Mit unfassbar großer Energie baute sie sich ein eigenes Leben auf: als alleinerziehende Mutter machte sie ihren Schulabschluss und begann eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin. Sie lebte einen freiheitlichen, westlichen Lebensstil, legte ihr Kopftuch ab, hatte deutsche Freunde und ging allein auf Parties.

Gleichzeitig suchte sie immer wieder den Kontakt zu ihrer Familie, die sie verstoßen hatte. Den besten Draht hatte sie zu ihrem kleinsten Bruder Ayhan. Er besuchte sie in ihrer Wohnung – auch am Abend der Tat. Wie wenig sich Hatun Sürücü in Gefahr wähnte, zeigt ihr Tod: Mit Kaffeetasse in der einen und Zigarette in der anderen Hand begleitete sie Ayhan um Bus, als er die Pistole zog und ihr drei Mal ins Gesicht schoss. Er gestand die Tat vor Gericht und nannte als Motiv den Lebensstil seiner Schwester. Die Pistole ist bis heute verschwunden.

Was die Staatsanwaltschaft in Berlin in ihrer Anklage mutmaßte, konnte nach Auffassung des Gerichts nicht bewiesen werden: Demnach haben die Brüder gemeinschaftlich den Mord an der Schwester ausgeheckt, um die Ehre der Familie wiederherzustellen. Mutlu soll die Pistole besorgt, Alpaslan Schmiere gestanden haben. Dass der Jüngste die Tat beging und gestand, gehörte demnach zum Plan: zur Tatzeit war er erst 18, ihm drohte die geringste Strafe.

Im Prozess war die Beweislage alles andere als erdrückend – es fehlten Augenzeugen für mehrere Schützen oder Beteiligte. Zur Kronzeugin wurde die 18 Jahre alte Freundin Ayhans. Auch ihr Leben fiel durch den Mord in Scherben: ihre Wissen wurde von den Ermittlern als so gefährlich eingeschätzt, dass sie seitdem mit ihrer Mutter im Zeugenschutzprogramm lebt.

Der Mörder hat vor der Tat einen Geistlichen befragt

Wenn sie vor Gericht aussagte, in schusssicherer Weste mit leiser Stimme, dann eröffnete sie den Zuhörern den Blick in eine fremde Welt. Das Mädchen aus einer modernen türkischen Familie, gerade frisch verliebt, berichtete von seinem Freund, der sich stark am konservativen Islam orientierte. Sie trug für ihn ein Kopftuch, wollte ihm gehorchen, weil er der Mann sei. Und dieser „Mann“ erzählte ihr nun, dass er seine Schwester umbringen wolle und die Tat mit seinen Brüdern geplant habe.

Mutlu habe einen Geistlichen befragt, ob diese Tat im Einklang mit dem Glauben stehe. Die Antwort: „Möge eure Schlacht selig sein.“ Das Mädchen berichtete auch, wie Ayhan ihr nach der Tat eine goldene Uhr zeigte – ein Geschenk des Vaters. Das alles waren keine Beweise, auch wenn man vor Gericht viel über das Wertegerüst erfuhr, aus dem das Opfer zu befreien versucht hatte. Darüber konnten die Zuhörer auch immer dann etwas lernen, wenn die angeklagten Brüder das Gericht beleidigten oder Zeuginnen bedrohten.

Der türkische Staatsanwalt setzt auf die Aussagen der Zeugin. In der Anklageschrift heißt es: „Es muss angenommen werden, dass, wenn auch kein Indiz allein ausreicht, um die Schuld der Verdächtigen zu beweisen, dennoch die Gesamtheit der Indizien den nötigen Beweis liefern kann.“ Die Angeklagten weisen die Vorwürfe zurück.