Psychische Gesundheit Wenn kleine seelische Verletzungen uns krank machen

Die Psychologin Sonja Unger aus dem Schwarzwald geht davon aus, dass viele seelische Leiden auf sogenannte Mikrotrauma zurückgehen. Foto: PR/privat

Wenn wir über einen längeren Zeitraum Verletzungen ausgesetzt sind, können wir krank werden. Die Psychologin Sonja Unger erklärt, wie wir mit einem Mikrotrauma besser umgehen, aber auch, warum gesellschaftliche Veränderungen uns alle kränkbarer machen können.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Wir alle tragen im Leben einen Rucksack mit uns herum, in den wir alle unsere erlittenen Verletzungen packen. Bei manchen ist der Rucksack schwerer, bei manchen leichter. Das hängt oft gar nicht damit zusammen, was für Verletzungen wir erlitten haben, sondern viel damit, wie wir im Leben gelernt haben, mit Verletzungen und Widrigkeiten, die uns widerfahren, umzugehen.

 

Wer dauerhaft belastet ist, leidet irgendwann seelisch darunter

Jeder vierte Deutsche leidet in seinem Leben mindestens einmal unter einer psychischen Erkrankung. „Einer unglaublich hohen Zahl an Menschen fällt es schwer, in der heutigen Zeit mental gesund zu bleiben“, sagt die Psychologin Sonja Unger aus Schiltach im Schwarzwald. Viele ihrer Patienten schämten sich dafür, dass sie unter Ängsten, Erschöpfung oder Depressionen leiden, vor allem, weil sie selbst glaubten, dass ihnen doch gar keine schlimmen Dinge im Leben widerfahren seien, die dies rechtfertigen würden. „Aber es sind auch die kleinen, unscheinbar wirkenden Nadelstiche im Alltag, die auf Dauer belasten können“, sagt Unger.

Der Begriff Trauma ist inzwischen – dank sozialer Medien – ja recht überstrapaziert. Viele unterliegen dem Irrglauben, dass jede Verletzung, jede Niederlage, jedes schlimmere Erlebnis ein Trauma ist. In der Psychologie versteht man unter einem Trauma jedoch eher lebensbedrohliche Ereignisse wie Krieg, Flucht oder Missbrauch – und Betroffene werden von ihren Erinnerungen immer wieder eingeholt und entwickeln im schlimmsten Fall extreme seelische und körperliche Leiden davon.

Sonja Unger spricht deshalb von „Mikrotrauma“, wenn es sich um vermeintlich kleine seelische Verletzungen handelt, die über einen längeren Zeitraum bestehen und dann psychisch krank machen. In ihrem Buch über Mikrotrauma („Mikrotrauma: Wenn kleine seelische Verletzungen krank machen. Belastungen meistern – innere Stärke wiederentdecken“) erklärt sie, wie diese entstehen können.

Auslöser eines solchen Mikrotraumas können zum Beispiel Mobbing am Arbeitsplatz sein, erlittene Vernachlässigung und Abwertung in der Kindheit durch die Eltern oder auch später im Leben in Partnerschaften. Unger verweist darauf, dass es sich dabei um Verletzungen des Selbstwertgefühls handelt wie Beschämung, Abwertung, emotionaler Missbrauch, aber auch Isolierung und Bedrohung.

Die Folge sind oft Ängste, Depressionen, Schlafstörungen oder psychosomatische Beschwerden wie Verspannungen oder auch Magen-Darmprobleme. Gefährdet seien vor allem Menschen, die eine geringere Frustrationstoleranz haben oder auch weniger resilient seien. „Wer ein sehr stabiles Selbstbewusstsein hat, kann sich meistens besser abgrenzen und reagiert nicht so schnell auf Stress“, sagt Unger.

Mobbing oder toxische Beziehungen können Mikrotrauma auslösen

So wie bei ihrer Patientin Martina, deren Fall Unger im Buch beschreibt. Sie arbeitet seit dreißig Jahren in derselben Firma als plötzlich ihr Team wechselt. Fortab wird sie von einer kleinen Gruppe von Kollegin gemobbt, abgewertet und sabotiert. Auf Dauer entwickelt sie Schlafstörungen und massive Ängste, schleppt sich aber zwei Jahre weiterhin zur Arbeit, bis sie eines Tages zusammenbricht. Sie meldet sich krank und kann kaum noch ihr Haus verlassen.

Kleinere Verletzungen würden wir im Normalfall überwinden, wenn sie nicht regelmäßig passieren, ein Mikrotrauma kann daraus werden, wenn die quälende Situation über einen langen Zeitraum anhält. Betroffene quält dann oft die Frage, warum sie sich selbst aus ihrer Lage nicht befreien können, sagt Unger und ergänzt: „Oft befinden sich die Menschen in einer Abhängigkeitsbeziehung, zu ihrem Chef oder ihrem Partner. Sie glauben ohne diesen können sie gar nicht leben oder haben beispielsweise Angst vor finanzieller Unsicherheit.“

Auch für Martina sei es völlig unvorstellbar gewesen, ihren Arbeitsplatz zu wechseln. Der Gedanke, dass sie selbst sich aus ihrer Situation befreien könnte, sei ihr gar nicht gekommen. Dabei sei es bei Mobbing oft die einzige Lösung, den Arbeitsplatz zu wechseln. Viele hätten eher das Gefühl, klein beizugeben, als wäre es schwach, aufzugeben. Dabei könne die bewusste Entscheidung „Ich gehe da nicht mehr hin“ äußerst hilfreich sein, so Unger.

Inwieweit sich Schicksalsschläge zu einem Mikrotrauma ausweiten, hänge oft auch davon ab, wie die genetische Disposition einer Person ist, ihre Persönlichkeit, erlernte Bewältigungsstrategien und Verhaltensmuster sowie die gemachten Bindungserfahrungen. „Wie zum Beispiel, ob jemand gelernt hat, sich Hilfe zu holen oder seine Verletzlichkeit anderen Menschen zu zeigen“, sagt Unger. Es sei häufig nicht hilfreich, alles mit sich alleine auszumachen, wenn man in der Klemme stecke. Auch ein frühes Entwicklungstrauma macht uns häufig im Leben verletzlicher. „Oft haben Menschen dann eine hohe Erwartung an sich und an andere sowie ein großes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit.“ Dadurch sind sie aber auch leichter kränkbar – weil Erwartungen eben von anderen enttäuscht werden können.

Viele Menschen lassen sich zu viel gefallen – weil sie es so gelernt haben

Allzu häufig sind es aber gerade die Menschen, die in dysfunktionalen Beziehungen – toxisch würde man es heute wohl nennen – feststecken, sich am Arbeitsplatz oder in der Familie alles gefallen lassen. Aber warum lassen sich manche Menschen so viel gefallen von anderen? Das kann aus Ungers Sicht zwei Ursachen haben. So gebe es Menschen, die eine dysfunktionale Beziehung als solche gar nicht erkennen.

Sie merkten auch gar nicht, wenn psychische Beschwerden auftreten oder führen körperliche Symptome nicht darauf zurück. Und zum anderen gebe es eben jene, die lange quasi an anderen oder einer Situation kleben bleiben, in der Hoffnung, dass sich doch noch etwas ändert. Sie seien es meistens schon von zu Hause gewohnt, für andere „bequem“ sein zu müssen und sich niemals wehren zu dürfen – weil andere sie dann verlassen.

Ungers Patientin Martina hat durch das langjährige Mobbing komplett ihr Selbstbewusstsein verloren. „Sie war auf einmal auch eine ganz andere Person“, sagt Unger. Sie sei so unter Stress geraten, dass sie an gar nichts anderes mehr denken konnte.“

Zunächst einmal sei es deshalb hilfreich, eine betroffene Person zu stabilisieren und mit ihr gemeinsam, ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen. In ihrem Buch gibt die Psychologin auch eine ausführliche Anleitung zur Selbsthilfe bei Mikrotrauma. Die Übungen sollen helfen, Angst- und Schamgefühle zu überwinden und selbst wieder handlungsfähig zu werden.

Oft werden traumatische Erfahrungen in Behandlungen nicht berücksichtigt

Wichtig sei es letztlich, dass sich Betroffene die Ursache ihrer psychischen und körperlichen Beschwerden bewusst werden. „Auch um sich mitfühlend zu begegnen und den Mut aufbringen, etwas zu verändern“, sagt Unger abschließend. Ein Mikrotrauma zu erkennen, sei auch hilfreich für die Behandlung von Depressionen, Angst- oder Essstörungen. Bisher werde dies bei Therapien aber noch zu wenig berücksichtigt, ob kleinere traumatische Erfahrungen der Auslöser sind. Ein Thema sei vor allem, wie Betroffene mit grenzüberschreitendem Verhalten durch andere Menschen umgehen und sich langfristig besser zur Wehr setzen können.

Trotzdem betont Unger auch, dass es nicht nur an der einzelnen Person liegt, wenn sie ihre seelische Widerstandskraft verliert, sondern dass es auch gesellschaftliche Einflüsse in den vergangenen Jahren sind, die unsere Psyche schwächen können. So hätten sich unsere Lebensumstände stark geändert, die Arbeits- und Familiensituationen sind heute andere, Krisen wie Kriege und Klimazerstörung belasten viele, aber auch eine gefühlt immer unsicher werdende Welt.

Diese Faktoren hätten einen Einfluss auf unsere körperliche und mentale Gesundheit. Sind wir dadurch kränkbarer geworden? „Ja, das würde ich schon sagen“, so Unger. Höhere Anforderungen in der Familie oder in der Arbeitswelt könne Menschen dauerhaft stressen und bei manchen auch zu einem zwanghaften Perfektionismus führen. Auch die zunehmende Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft führt sie auf persönliche Ängste und Unsicherheiten zurück.

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