Degerloch am 10. Mai 2014: Abpfiff im Gazi-Stadion auf der Waldau. Der damalige Drittligist RB Leipzig schlägt die Stuttgarter Kickers am letzten Spieltag mit 3:1. Aus der Fankurve der Blauen kommen wüste Beschimpfungen und Schmähgesänge gegen die Gastmannschaft und ihre Fans. Plötzlich reißt sich der kleine Sohn von Enrico Sommerweiß los und geht mitten durch den A- und B-Block in Richtung Ausgang. Um den Hals trägt er einen RB-Leipzig-Schal. „Er ist einfach losgerannt und ich konnte nicht hinterher“, erinnert sich der Vater. Bevor die Situation womöglich eskaliert wäre, nehmen zwei Polizistinnen den Jungen zwischen sich und begleiten ihn sicher durch den brodelnden Hexenkessel.
Neun Jahre später kann Enrico Sommerweiß ganz entspannt von diesem Erlebnis erzählen. Es ist eine von mittlerweile sehr vielen Fußballgeschichten, die der Gärtringer gemeinsam mit seiner Familie und gemeinsam mit den „Schwabenballisten“ erlebt hat. So heißt der von ihm mitbegründete und als Vorsitzender geführte RB-Leipzig-Fanclub. Er ist laut dem 45-Jährigen der größte RB-Fanclub außerhalb Mitteldeutschlands.
16-Jähriger erlebt den Weg von der Regionalliga zur Champions League
Geschichten und Tradition – genau darum geht es den Fußballverrückten um Vereinschef Enrico Sommerweiß und seinen Stellvertreter Matthias Busse. Sie stellen damit einen der Hauptkritikpunkte an dem von den Fans anderer Vereine abschätzig als „Konstrukt“ bezeichneten Bundesligisten auf den Kopf: nämlich, dass RB Leipzig keinerlei Tradition und Geschichte habe.
„Wir wollen unsere Tradition selber schreiben“, sagt Sommerweiß und verweist dafür noch einmal auf seinen mittlerweile jugendlichen Sohn. „Der hat die Mannschaft von der Regionalliga bis zur Champions League begleitet. Welcher 16-Jährige kann das schon von sich behaupten?“ Matthias Busse sieht das ganz genauso. „Geschichte kann man ja auch bei einem jungen Verein schreiben. Dass heißt ja nicht, dass die Leute nicht mit Herzblut dabei sind“, sagt der 39-Jährige aus Weil im Schönbuch.
Wie kommt man im VfB-Ländle dazu RB-Fan zu werden?
Woher aber kommt diese Begeisterung für ein Team, das mit den Millionen eines österreichischen Brauseherstellers aus dem Boden gestampft wurde und 500 Kilometerweit weg vom Landkreis Böblingen liegt? Wie wird man mitten im VfB-Ländle Fan eines sächsischen Fußballklubs? Woher kommt die Liebe für einen Verein, der es in seinem knapp 14-jährigen Bestehen geschafft hat, auf der nach unten offenen Unbeliebtheitsskala der Bundesliga wie ein Red-Bull-Rennwagen mit Vollgas am vielgehassten FC Bayern und der als „Retortenverein“ verachteten TSG Hoffenheim vorbeizurauschen? Die Antwort fällt bei den beiden Vereinsoberen ganz ähnlich aus. Enrico Sommerweiß, der im Bereich digitale Schulentwicklung arbeitet, ist erst spät zum Fußball-Fan geworden, wie er sagt. Mit dem VfB Stuttgart hatte das jedoch nichts zu tun. „Auch wenn ich die Meisterschaft 2007 gerne mitgefeiert habe“, sagt er mit einem Grinsen im Gesicht. Seine Entscheidung für Leipzig habe auch nichts damit zu tun, dass er in Sachsen-Anhalt geboren wurde. Stattdessen reizte ihn dabei der Gründergeist. „Ich habe für mich die Chance gesehen, von Anfang an dabei zu sein und etwas zu bewegen“, sagt er.
Bei Matthias Busse beginnt die Geschichte nicht in Leipzig, sondern in Luxemburg. „Das war meine erste Leidenschaft“, erzählt der Weilemer, dem man am Zungenschlag die ostwestfälische Herkunft noch immer anhört. Dem herzhaften Lachen von Enrico Sommerweiß ist zu entnehmen, dass die merkwürdige Liebe für die Kicker aus dem Großherzogtum wohl immer wieder Stoff für kleine Frotzeleien liefert. Busse nimmt’s gelassen und schwärmt von seinem dortigen Herzensverein, der in dem 7200-Einwohner-Ort Niederkorn spielt und 2017 überraschend die Glasgow Rangers aus dem Europapokal geworfen hat – in Anwesenheit von Busse im schwarz-gelben Fantrikot.
„Ich finde, das ist ein ganz spannendes Land, weil dort so alles kompakt beieinander ist“, erklärt der 39-Jährige, der schon als Grundschulkind „Kicker“-Sonderhefte gesammelt, im Urlaub Zweitligatabellen ausgeschnitten und sich für Blau-Weiß 90 Berlin, BSG Stahl Brandenburg und andere abseitige Vereine interessiert habe. Warum also nicht auch für den RB Leipzig?
Die schönste Zeit waren die Jahre in den unteren Spielklassen
Dort habe ihn besonders gereizt, dass hier eben ein Investor nicht einfach nur ein Strohfeuer entfachen und kurzfristig Geld in einen Verein pumpen wollte, um das Projekt dann wieder fallen zu lassen – so wie es etwa die Göttinger Gruppe mit Tennis Borussia Berlin gemacht habe. „Was die Traditionalisten so scheiße finden, fand ich eigentlich sehr gut“, erzählt der stellvertretende Abteilungsleiter beim Umwelt- und Gewerbeamt am Tübinger Landratsamt: „Nämlich dass Red Bull gesagt hat, wir wollen das konsequent aufbauen und begleiten.“
Die schönste Zeit, da sind sich Sommerweiß und Busse einig, seien die Jahre in den unteren Spielklassen gewesen, als die Spiele noch im MDR liefen und man mit dem damaligen Trainer Alexander Zorniger ungezwungen beim Training an der Seitenlinie quatschen und ihn für den Sohn um ein Autogramm von Yussuf Poulsen bitten konnte.
Über die Internetseite RB-Fans.de fanden Busse und Sommerweiß schließlich zusammen. Wie sie nachträglich herausfanden, waren beide bei dem eingangs erwähnten Kickers-Spiel vor Ort. Ab der Zweitliga-Saison 14/15 fuhr man gemeinsam zu den Spielen von RB Leipzig. Die offizielle Gründung des Fanclubs, bei dem auch Holländer, Schweizer und sogar Leipziger Mitglied sind, war dann am 18. März 2017. Übrigens fand Matthias Busse über seine Liebe zum RB auch seine Ehefrau und Mutter seiner Kinder. Die gebürtige Leipzigerin war ebenfalls auf dem Fan-Portal aktiv.
Twitter-Shitstorm um vermeintliches Fanbanner
Die Schwabenballisten, die auch Gründungsmitglied des Fanverbands sind, sehen den Fußball nach eigenen Worten in erster Linie als Hobby. „Auf die Ultra-Kultur haben die wenigsten bei uns Bock“, sagt Sommerweiß. Auch Politik und Ideologie habe im Verein nichts zu suchen. „Immer mit Humor und alles nicht so ernst nehmen“, laute die Devise. Das gilt auch für die Anfeindungen, mit denen man als RB-Fan gerne mal konfrontiert wird.
Darüber, dass die Schwabenballisten in der vergangenen Saison am Rande des Auswärtsspiels gegen Schalke auf Twitter in die Ausläufer eines Shitstorms geraten waren, können die beiden deshalb nur müde lächeln. Im Zentrum stand dabei vermeintlich das Fanbanner, um das zwischen den Anhängern beider Fanlager ein Scharmützel entstanden war. „Der Streit ging aber um ein anderes Banner. Unseres hing da gar nicht“, klärt Busse auf, dass es sich nicht um das aus dem Bettlaken seiner Oma auf dem heimischen Balkon gemalte Banner handelte.