Es ist, als öffne Rebekka Bakkens Singen die Pforte zum Unterbewusstsein, wo kindliche Ängste und die Tiefe der religiösen Musik sich mischen. 1987 bestand ihr Publikum in Stuttgart aus fünfzehn Besuchern – heute füllt die Norwegerin den großen Saal.

Seefahrer kennen den Unterschied zwischen dem magnetischen und dem geografischen, dem wahren Norden. „True North“ nennt die norwegische Sängerin Rebekka Bakken ihr neues, im Theaterhaus uraufgeführtes Projekt. An ihrem 54. Geburtstag bringt ihr das Publikum am Ende des eindrucksvollen Konzerts ein Ständchen. Wolfgang Marmulla, Programmplaner des Theaterhauses neben Werner Schretzmeier, gratuliert mit einem großen Blumenstrauß. Als schüchterne, sich etwas steif bewegende 32-Jährige sang sie erstmals auf der Theaterhausbühne. Das Publikum bestand 1987 aus gerade mal fünfzehn Besuchern. Heute füllt Rebekka Bakken locker den großen Saal, die Leute strömen von weit her, und aus dem hässlichen Entchen von damals ist längst ein schöner Schwan geworden. Geblieben aber ist diese strahlende Stimme, die man so schnell nicht vergisst.

 

Dunkle Klangwolken des Keyboarders Stein Austrud schweben durch den Raum, von Drummer Rune Arnesen mit dröhnenden Schlägen auf der Bass Drum rhythmisiert, der Bass von Svein Schultz pulsiert mächtig, und von Eivind Aarsets E-Gitarre hallen sphärische Sounds. Auch die Bühne ist dunkel, und das Outfit der Musiker schwarz. Im weißen Scheinwerferlicht steht die in leuchtendem Rot gekleidete Sängerin wie eine sich im Rhythmus bewegende rote Flamme. Das Bildnis der Tänzerin Anita Berber von Dix kommt einem in den Sinn.

Von Trollen und Erdgeistern

Bakkens Stimme klingt in hohen Registern mädchenhaft und frisch. In tieferen Lagen entfaltet sich die Sinnlichkeit einer liebenden Frau. Die Intonation ist traumhaft, die Phrasierung punktgenau. Bakken erzählt, dass die Musik ihrer Kindheit für sie immer wichtiger werde und singt, begleitet von der mit dunkler Wucht spielenden Band, ein altes norwegisches Lied von Trollen und Erdgeistern. Danach – ganz ohne Begleitung – ein Kirchenlied vom blutenden, sein Kreuz schleppenden Christus. Dessen Bild in der Kirche hatte auch der kleinen Rebekka Furcht eingeflößt. Es ist, als öffne ihr Singen die Pforte zum Unterbewusstsein, wo kindliche Ängste und die Tiefe der religiösen Musik sich mischen. Zugleich erscheint Bakkens Gesicht als Projektion vergrößert auf dem Bühnenvorhang im Hintergrund, verzerrt wie ein Bild von Francis Bacon. Zeit für Leichteres: „Why“, der Popsong von Annie Lennox, und „In The Flood“ von Peter Gabriel hellen die fast unheilvolle Atmosphäre auf, und das Publikum klatscht begeistert.