Bau-Recyling hat enormes Potenzial
Bislang ist es das geübte Auge der Mitarbeiter, das nach dem Wiegen einschätzt, was in dem oft unübersichtlichen Haufen steckt, der in etwa 180 Ladungen am Tag, vom 40-Tonner-Lastwagen bis zum kleinen Handwerkeranhänger, angeliefert wird.
„Ich hatte vom Thema Baustoffe ursprünglich keine Ahnung“, sagt der IT-Spezialist Max Gerken. Doch viel Expertise haben er und das inzwischen neunköpfige Team des 2022 gegründeten Tübinger Start-ups Optocycle bei der Erfassung und dem Analysieren von Mustern mit Künstlicher Intelligenz (KI). Die Spezialisten aus dem Tübinger KI-Zentrum Cyber Valley haben sich schon mit allen möglichen Dingen beschäftigt, etwa dem Sortieren von Gemüse.
Aber es war ein in einem Entsorgungsunternehmen tätiger Bekannter von Gerken, der das Start-up darauf brachte, dass im Sortieren von Bauschutt die Zukunft stecken könnte. „Die Branche ist erstaunlich offen für Innovationen“, sagt Gerken. Die wie Feess oft schon Jahrzehnte bestehenden Traditionsunternehmen habe er als offener wahrgenommen als manchen Mittelständler im Maschinenbau. Feess sei dabei in Deutschland führend. 2016 erhielt die Firma den Deutschen Umweltpreis, 2021 dann auch noch den baden-württembergischen. Unterstützt wird Optocycle auch von der Stuttgarter Baufirma Wolff & Müller.
Und so hängt im 2017 eröffneten Kompetenzzentum für Kreislaufwirtschaft seit Anfang des vergangenen Jahres eine Kamera über der Waage an der Zufahrt. Gerken zeigt Fotos, die dokumentieren, wie unterschiedlich das Ladegut aussehen kann. Die Künstliche Intelligenz wird zurzeit Lastwagen um Lastwagen darauf trainiert, diese Muster zu deuten: Bestandteile, Struktur, Farbe, Größe, Mischverhältnis. Das entscheidet zunächst einmal, auf welcher der nummerierten Ablageflächen der Bauschutt dann abgeladen wird. Die Qualität der Lieferungen ist sehr unterschiedlich. Wenn Feess selber für den Abbruch verantwortlich ist, dann wird schon vor Ort gut vorsortiert. Doch andere Lieferanten tricksen schon einmal ein bisschen: Da landet das gute Material oben, das schlechtere weiter unten. Mit mehr Qualität erzielt man einen besseren Preis.
Start-up denkt wie ein Mittelständler
Die Künstliche Intelligenz soll nicht nur schärfer blicken, sondern auch objektiv urteilen – mit ihr ist dann am Ende nicht zu diskutieren wie mit einem Mitarbeiter, der nach Meinung des Lieferanten den Schutthaufen vielleicht nicht wertvoll genug einstuft.
Noch lernt der Computer, aber Ende 2024 soll die KI so weit trainiert sein, dass sie alle Materialien und deren Zusammensetzung erkennen kann. „Wir verdienen jetzt schon Geld“, sagt Gerken, der sein Start-up als eine Art Mittelständler der Zukunft sieht. Nicht rasantes Wachstum um jeden Preis oder der Verkauf an einen Investor sei das Ziel, sondern eine fest auf ihrem spezialisierten Markt mit etwa 300 potenziellen Abnehmern in Deutschland etablierte Firma, die einen wertvollen ökologischen Beitrag leiste.
Recyceltes Baumaterial ist absolut gleichwertig
Mit der richtigen Sortierung und Aufbereitung lasse sich aus den wiederverwerteten Stoffen wieder Baumaterial herstellen, das neu produziertem nicht nachstehe, sagt Eberhard Fritz, der Leiter des Stoffstrommanagements bei Feess. So habe man allein 23 unterschiedliche, zertifizierte Gesteinskörnungen im Angebot, die etwa zu neuem Beton verarbeitet werden können. „Mich ärgert ein bisschen der Begriff Sekundärrohstoffe, weil der etwas Minderwertiges suggeriert.“ Es seien aber keine Qualitätsnormen, sondern Vorurteile und Denkblockaden, die einer noch konsequenteren Wiederverwertung im Weg stünden: „Aus Altmaterial ist der Beton dann vielleicht ein bisschen rötlich – na und?“
Fast hundert Prozent Wiederverwertung möglich
Doch noch muss das System perfektioniert werden. „Sie müssen eine große Menge Material zu einem günstigen Preis begutachten“, sagt Gerken. In Kirchheim laufen Zehntausende Tonnen von Material im Jahr durch. Heute könne man auch nur etwa 80 Prozent des Materials wiederverwerten, sagt der Bauschutt-Experte Fritz. Mit präziserer Analyse dank KI hält er eine Quote von fast 100 Prozent für erreichbar. Die Analyse bei der Anlieferung in der Recyclinganlage ist aus dessen Sicht nur ein erster Schritt: „Mein Traum wäre, dass man schon auf der Baustelle alles Material effizient begutachten und sortieren kann.“
Dann könnte man die Lastwagen schon von der Baustelle optimal zur Weiterverarbeitung lenken. Doch noch braucht es gemeinsame Entwicklungsarbeit der Praktiker und der IT-Spezialisten. Anfang bis Mitte des kommenden Jahres soll das System marktreif sein – und dann sogar in Lage sein, neben der Materialerkennung auch noch Kantenlänge und Feinanteile genau abzuschätzen.
Was in Baumaterial steckt
Graue Energie
Dies ist der insgesamt für ein Produkt aufzuwendende Energiebedarf. Neben der Herstellung gehören dazu auch Transport und Lagerung sowie der Aufwand für Nutzung und Entsorgung.
Gebäude
Bisher hat man beim Energiebedarf von Gebäuden nur die Nutzungszeit im Auge gehabt. Doch nun blickt man auf den ganzen Lebenszyklus. Die Wiederverwendung von Baumaterial ist hier ein entscheidender Schlüssel, um etwa die bisher problematische CO2-Bilanz von Beton zu verbessern. age