Es war das Jahr 1986, als die deutsche Popgruppe Trio Rio den Song „New York, Rio, Tokyo“ veröffentlich hat. Was das mit Elisabeth Seitz zu tun hat? Rein geschichtlich erst einmal gar nichts, schließlich war die gebürtige Heidelbergerin damals noch gar nicht geboren, sie kam erst 1993 auf die Welt. Aber: In leicht abgewandelter Form hat sie zwischen 2012 und 2021 ja eine ähnliche Trilogie hingezaubert. Nicht an den Pophimmel – sondern auf die sportliche Bühne.
London, Rio, Tokio – das sind die Orte, an denen Elisabeth Seitz an Olympischen Sommerspielen teilgenommen hat. Und im Gegensatz zu Trio Rio kein One-Hit-Wonder abgab. Die Turnerin stand jeweils im Finale am Stufenbarren, wurde Sechste, Vierte und Fünfte – und will ihrem eigenen Karriere-Song im nächsten Jahr eine weitere Strophe hinzufügen. Mit der Teilnahme an den Sommerspielen in Paris. Doch was sich bei der Vita der 30-Jährigen wie eine sportliche Selbstverständlichkeit anhört, wird eine ganz enge Kiste. In zweierlei Hinsicht.
„Es war speziell. Und es war hart.“ So erinnert sich Elisabeth Seitz, die alle nur Eli nennen, an die Turn-Weltmeisterschaften in Antwerpen. Denkbar knapp hatte die deutsche Frauen-Riege den für die Olympiaqualifikation nötigen zwölften Platz verpasst. Unter anderem, weil Eli Seitz nicht auf der Matte stand, sondern verletzt auf der Tribüne saß. Wenige Wochen zuvor hatte sie sich die Achillessehne gerissen. „Innerhalb von wenigen Wochen bedeutete die WM den zweiten großen Rückschlag“, sagt sie, „das saß ziemlich tief und hat mich extrem mitgenommen.“ Aber: Nach „Planänderung Nummer zwei“ geht der Blick längst wieder nach vorn. Zumal sich das Ziel nicht verändert hat. Der Weg dorthin allerdings beträchtlich.
Zahlreiche Kandidatinnen für einen freien Platz
Allein die Verletzung hat Seitz’ Pläne Richtung Paris über den Haufen geworfen. Zeit und Geduld seien nötig gewesen in den ersten Wochen nach dem Achillessehnenriss, ihrer ersten richtig schweren Blessur. Mittlerweile darf sie schon wieder an die Geräte, auch an den Stufenbarren, wo Eli Seitz besonders stark ist – 2022 wurde sie an diesem Gerät in München Europameisterin. Abgänge sind allerdings aktuell noch verboten. Die Heilung und der Aufbau laufen optimal und komplett nach Plan. Dennoch wird das Comeback ein Wettlauf mit der Zeit. Doch das ist ja nicht die einzige Herausforderung auf dem Weg nach Paris.
Durch die verpasste Qualifikation als Mannschaft stehen den deutschen Frauen nur drei Plätze zu. Zwei wurden über Einzelleistungen bereits vergeben. Pauline Schäfer-Betz und Sarah Voss haben dadurch ihren Startplatz sicher. Zudem steht den Turnerinnen des Deutschen Turnerbundes ein weiterer Quotenplatz zu – um den sich nun alle anderen balgen müssen. „Das“, sagt Eli Seitz, die auch Botschafterin der Host City Stuttgart für die Fußball-EM ist, „ist nun eben das Schicksal, mit dem wir leben müssen.“
Zu diesem „Schicksal“ gehört, dass die besten deutschen Turnerinnen zwar Teamkolleginnen bleiben, nun aber noch mehr als bisher zu Konkurrentinnen werden. Lea Quaas (18), Karina Schönmaier (18/beide Chemnitz) und Meolie Jauch (16/Stuttgart) gehörten neben Schäfer-Betz (26) und Voss (24) zum WM-Team in Antwerpen. Dort fehlte neben Seitz auch Emma Malewski (19/Chemnitz) verletzt. Als Konkurrentin neu hinzu kommt Helen Kevric (15/Stuttgart), die in den vergangenen zwei Jahren bei den Juniorinnen ordentlich abgeräumt hat. Bei zwei Qualifikationswettkämpfen im Juni 2024 soll sich das Rennen um das eine Paris-Ticket entscheiden. „Dann zählt die beste Leistung“, sagt Eli Seitz – und sieht sich trotz ihrer Verletzung gar nicht so schlecht aufgestellt für die Entscheidung.
Zum einen muss im Vorfeld der Spiele wohl keine Topleistung in einem Mehrkampf, also an allen vier Geräten, nachgewiesen werden. Eher müssen die Kandidatinnen via Leistung belegen, dass sie eine Final-, besser noch eine Medaillenchance besitzen – sei es auch nur an einem Gerät. Und da spricht letztendlich viel für Eli Seitz, so sie denn fit sein wird.
Elisabeth Seitz gibt sich selbstbewusst
„Ich muss“, sagt sie selbstbewusst, „niemandem mit vielen Worten erklären, dass ich international konkurrenzfähig bin. Das habe ich über Jahre hinweg bewiesen.“ Und bis kurz vor ihrer Verletzung war sie vor allem mit ihrer Übung am Stufenbarren eine Medaillengewinnerin. 2022 holte sie EM-Gold in München, im Frühsommer 2023 EM-Bronze, ebenfalls in diesem Jahr den DM-Titel (zudem jenen im Mehrkampf). „Es ist extrem beruhigend zu wissen, dass ich abliefern kann“, ergänzt die routinierte Turnerin vom MTV Stuttgart, die mit 25 deutschen Meistertiteln einen herausragenden Rekord hält. Und die trotz der widrigen Umstände des vergangenen Herbstes keine Rücktrittsgedanken hegte.
„Für mich war immer klar, dass ich meine Karriere nicht wegen einer Verletzung beenden werde“, sagt sie, „in dem Moment, in dem ich mit gerissener Achillessehne am Boden lag, war das umso klarer.“ Sie will nach Paris, noch einmal das besondere Flair des olympischen Dorfes spüren („Da sind all jene, die sich ihren größten sportlichen Traum erfüllen, zusammen“). Und im Gegensatz zu Rio 2016 und Tokio 2021 auch wieder viel Unterstützung von Freunden und Familie genießen. So wie 2012 in London. „Damals konnten alle, die dabei sein wollten, auch dabei sein“, erinnert sie sich, „das hat es familiärer gemacht.“
Klar ist schon: 2028 in Los Angeles wird sie nicht mehr an die Geräte gehen, dann vielleicht schon ihr Lehramtsstudium an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg beendet haben. Den Schülerinnen und Schülern wird sie viel zu erzählen haben. Im Idealfall von London, Rio, Tokio – und Paris.
Unsere Serie im Überblick
Genau ein Jahr vor der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris haben wir damit begonnen, Sportlerinnen und Sportler aus der Region Stuttgart vorzustellen. Sie alle eint ein Ziel: Sie wollen im Sommer 2024 im Zeichen der Ringe starten. Bisher erschienen:
Der Schorndorfer Ringer Jello Krahmer
Der Ingersheimer BMX-Fahrer Philip Schaub
Die Fellbacher Sportgymnastin Darja Varfolomeev
Bogenschütze Jonathan Vetter aus Deufringen
Der Nürtinger Mountainbiker Luca Schwarzbauer
Die Metzinger Handballerin Maren Weigel