„Faust“ als Stück über das Altern?
Wissen Sie, ich hatte heute eigentlich gar keine Lust, ein Interview zu geben. Eben hat mir im 42er Bus eine junge Dame ihren Platz angeboten. Da war der Tag für mich eigentlich gelaufen. Und das ist der Grund, warum ich „Faust“ mache. Ich kann mir nur noch den Teufel wünschen, damit das Leben wieder von vorne losgeht.
Wie endet denn Gounods „Faust“ bei Ihnen?
Man muss dieser Oper eine andere Bedeutungsstruktur geben. Das ist wie eine Vivisektion. Da steht die Wahrheit dieser Zeit zwischen den Zeilen, und diese Wahrheit will ich sichtbar machen. Ich will immer zeigen, wie sich die Entstehungszeit in einem Kunstwerk abbildet. Die Jahre nach dem für die Franzosen verlorenen deutsch-französischen Krieg: Das ist die große Zeit, in der das Kolonialreich Frankreichs entsteht. Wenige Jahrzehnte später, nach dem Zweiten Weltkrieg, wird es wieder auseinanderbrechen. Dann werden die Franzosen Indochina mit aller Macht verteidigen, sie werden in Nordafrika Völkermord begehen, und Mitterrand wird sagen, Algerien bleibt französisch. Viele Menschen haben noch die Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im Kopf – frei sind sie dann allerdings nur manchmal, gleich selten und brüderlich nie.
Also geht es um Fassaden, um schönen Schein?
Ja. Also um so einen, wie ihn das Paris der breiten Alleen verkörpert. Ich versuche immer, eine unabhängige, authentische Ebene einzuflechten, also etwas, das für das Werk etwas Knochenbrecherisches hat. Dabei hilft zum Beispiel eine Kamera, die immer dabei ist und den Menschen nahe kommt. Sie zeigt, wie sich der Sänger, der im Moment des Schönen arbeitet, durch die ungeheure physische Entäußerung verändert. Diese Bilder spiegeln auch die Wirkung wider, die Theaterkunst heute noch hat – sonst bräuchten wir ja nur noch immer neue „Tatorte“ zu produzieren, und das fände ich schon etwas unbefriedigend.
Den schönen Schein – gibt es den nicht auch in Gounods Musik?
Ja, die Musik ist sehr geschickt gemacht, sie ist schön. Siegfried Kracauer hat gesagt, die Operette konnte nur entstehen durch die Operettenhaftigkeit des Systems, also des zweiten Kaiserreichs. Und von Offenbach ist Gounod manchmal gar nicht weit entfernt – besonders wenn man die Chöre im zweiten Akt betrachtet. Je leichter ein Dirigent diese Klänge wirken lässt, je mehr er ihnen die deutsche Schwerfälligkeit austreibt, desto deutlicher wird die Ambivalenz dieser Zeit. Das ist ein Tanz auf dem Vulkan: Unter der Oberfläche brodelt der Trieb, und man spürt die bürgerliche Ideologie, die nach Marx verkehrtes Bewusstsein ist.
Womit wir bei der Masse Mensch wären, in der Oper also: beim Chor. Wie gehen Sie mit dem Kollektiv um?
Je mehr sich eine Gesellschaft individualisiert, desto stärker tendieren Individuen dazu, sich einer Massenkultur anzupassen. Das fange ich auf: Die Sehnsucht nach Individualität ist auch im Chor da, der wahnsinnig Süffiges zu singen hat, aber der Ausbruch will nicht gelingen.