Reinhold Messner, der Radikalabenteurer und Anarch am Berg aus Südtirol, wird an diesem Mittwoch siebzig. Seine Sehnsucht nach großen Expeditionen hat sich gemildert, hat der StZ-Korrespondent Paul Kreiner beobachtet.

Stuttgart - Eine „gezähmte Welt“? Der wollte dieser Mann um jeden Preis entkommen. Die „wahre Menschennatur“, sagt Reinhold Messner, finde sich allein in der Wildnis, im „Niemandsland der Felswand“ vielleicht, irgendwo ganz weit weg jedenfalls, am Horizont, „an den äußersten Grenzen der eigenen Möglichkeiten“, wo er unterwegs gewesen sei sein Leben lang. Diese wahre Menschennatur habe er dort gesucht – „und jenen Teil der Welt in mir selbst, der sich in der Unendlichkeit verliert“.

 

Es ist ein philosophischer, ebenso melancholischer wie „im Abstieg des Alters“ zufriedener Reinhold Messner, der da auf sein Leben zurückblickt – oder besser auf sein „Überleben“, das ihm an diesem Mittwoch nun schon siebzig Jahre immer wieder neu beschieden ist. „Über Leben“ heißt doppelsinnig denn auch das Buch, das Messner sich selbst zum Geburtstag geschenkt hat und in dem er – in siebzig Kapiteln – seine Gedankenwelt ausbreitet.

Ungezwungene Kindheit im Südtiroler Villnösstal

Da ist alles drin, angefangen von der ungezwungen-spielerischen Kindheit im Südtiroler Villnösstal, wo Messner als Fünfjähriger auf seinem ersten Dreitausender stand und wo –ein pädagogisch-gesellschaftskritischer Unterton ist unüberhörbar – „uns die Nichterziehung zu selbstsicheren und widerstandsfähigen Menschen gemacht hat“. Das war, sagt er, wie bei jenen „traditionellen Stammesgesellschaften“, die basisdemokratisch, keiner Obrigkeit untertan und von keiner Zivilisation angekränkelt, glücklich „irgendwo am Rande der Welt“ leben oder, nun ja, zu Zeiten von Messners jugendlichen Expeditionen wohl noch gelebt haben.

Da singt Messner das Hohelied der Selbstbestimmung, der unaufhörlichen „Freiheit aufzubrechen, wohin ich will“. Da scheint durch, dass er vor allem deswegen so hoch hinaus wollte und auf alle 14 Achttausender dieser Welt gestiegen ist – als Erster ohne Sauerstoffflaschen –, weil er über sich selbst nichts und niemanden mehr zu dulden bereit war. Keinen Staat, keine Religion, keine Regeln. Nie, schreibt er, „habe ich gefragt nach erlaubt oder verboten, es ging mir immer nur um möglich oder unmöglich“. Auch wenn andere es für unmöglich befanden – Messners spektakuläre, nie zuvor unternommenen Alleingänge auf Nanga Parbat und Mount Everest zum Beispiel: „Mir ging es um die Verwirklichung revolutionärer Ideen. Also wagte ich Tabubrüche in Serie. Die Szene hielt den Atem an, während ich ihr ohne Atemmaske vorführte, wie flach ihre Welt war.“

„So geht er seinen Weg“

Einer, der „in Friedrich Nietzsches Übermensch kein Ungeheuer sieht, sondern den selbstbestimmten Menschen“, der kann dann auch den Abenteurer als ein „souveränes Individuum“ beschreiben, das sich von jeder Moral befreit: „Allen von außen aufgezwungenen Gesetzen und nur seinem Gewissen verantwortlich, folgt er seiner Dynamik, seinen Instinkten, seinen Visionen. So geht er seinen Weg“, philosophiert Reinhold Messner, und dann erzählt er, was er mit dem ersten (unehelichen) von seinen vier Kindern gemacht hat: „Die Erziehung überließ ich weitgehend seiner Mutter. Die alltäglichen Pflichten waren mit meinem damaligen Leben nicht vereinbar; sie widersprachen auch meiner Vorstellung von Freiheit, zu der auch Verantwortung für uns selbst gehört.“

Seine Träume, bilanziert Messner, habe er wahr gemacht, und immer, wenn er irgendwo nicht weiterkam, suchte er sich neue Herausforderungen: Das war so, als ihm nach der ersten Expedition zum Nanga Parbat sieben erfrorene Zehen amputiert werden mussten. Da gab er zwangsläufig die geliebte Felskletterei auf, bei welcher er in den Alpen nie erreichte Maßstäbe gesetzt hatte, und verlegte sich aufs Höhenbergsteigen, in die Achttausenderwelt, wo er seine Weltberühmtheit erlangte. Als auch das nicht mehr ging – seines Fersenknochens wegen, den er sich ausgerechnet daheim gebrochen hatte, beim Übersteigen der Mauer seiner Südtiroler Wohnburg Juval –, da entwarf Reinhold Messner seinen „Fünfzehnten Achttausender“: das „Messner Mountain Museum“, eine Kette von derzeit fünf, im kommenden Winter dann sechs Südtiroler Ausstellungsorten, wo er das Verhältnis zwischen Mensch und Berg „durch das Erzeugen von Emotionen“ reflektieren will – und durch das Zeigen von „Reliquien“.

Inzwischen spürt auch er das Alter

Das Alter, sagt Reinhold Messner, begann er zu spüren, als er 2004, mit sechzig Jahren also, die 2000 Kilometer der Wüste Gobi durchquerte: „Das war zu viel, ich musste erkennen, das sollte ich mir nicht mehr antun.“ Heute singt er das Lied vom Seniorenglück, vom „sicheren Nest“ der Familie, von dem „Plätzchen“, wo er „in gedankenlosem Denken dem Wasser, dem Laub der Bäume, den Vögeln zuhören“ kann. Und „sogar die Entdeckung, dass die Welt dieselbe wäre, hätte es mich nie gegeben, ist keine Zumutung mehr“.

Die Sehnsucht nach großen Bergexpeditionen, schreibt Messner, sei geschwunden: „Ich habe den Himalaja doch oft genug erlebt. Fortschritt ist nicht, wenn es immer mehr, weiter und höher geht. Dass es nicht mehr höher geht, ist für einen, der ganz oben stand, kein Problem.“

Sein Lebensideal lässt Messner sich nicht nehmen, aber er definiert es in bemerkenswerter Weise um: „Heute bedeutet Selbstbestimmung für mich mehr Zeit für anderes und für andere.“