Vor 200 Jahren ist der Sommer ausgefallen. Ein gewaltiger Vulkanausbruch in Südostasien ist dafür verantwortlich. Doch das ahnt damals niemand. In einer kleinen Serie verfolgen wir die Spuren, die davon bis heute zeugen. Teil 1: Es gibt nichts zu essen.

Renningen - Ernst und finster schauen sie drein, als sie sich in ihrem Renninger Ratssaal treffen. Probleme über Probleme haben sie zu besprechen, der flinke Ratsschreiber kommt kaum nach, all die Anliegen in das dicke Rats-Protokollbuch niederzuschreiben. Und als ob es nicht schon spät genug wäre – es ist schließlich schon ein später Samstagabend – da meldet sich noch ein Herr Gemeinderat. „Nota!“, ruft er, und der Ratsschreiber greift noch einmal zum Federhalter. „Nota! Es kann nicht unbemerkt gelassen werden, daß in dem verflossenen Jahr 1816 die Ernte sehr unergiebig ausfiel!“

 

Wie wahr! 1816 war ein schlimmes Jahr, die Spuren davon findet Mathias Graner noch immer. Genau 200 Jahre später blättert der Renninger Stadtarchivar die Ratsprotokolle von damals durch – und findet dort vor allem ein Thema: Essen, Hunger, Ernteausfall.

„Die Menschen damals im 19. Jahrhundert wussten ja nicht, was die Ursache für so einen Ernteausfall sein könnte“, sagt er. Vielleicht die Missgunst Gottes? Pech? Oder gar militärische Handlungen?

Das Jahr beginnt mit rotem Schnee

Das Jahr 1816 hatte schon so merkwürdig begonnen. Nicht weiß oder grau, sondern rot und gelb gefärbt war der Schnee, der im Winter in Renningen gefallen war. Das verhieß nichts Gutes! Und tatsächlich, so bizarr wie der Anfang ging das Jahr weiter. „Teils wegen großer Nässe, teils wegen Überschwemmungen und teils wegen Gewitterschaden“, so lassen es die Ratsherren in die Renninger Dokumente schreiben, waren der Grund, dass gänzlich alle Ernte ausblieb. Im Frühjahr und Sommer 1816 regnet es quasi ununterbrochen.

„Und da waren die Renninger ja nicht alleine“, sagt Archivar Mathias Graner, der die Quellen von vor 200 Jahren ausgewertet hat. „Alle Regionen nördlich der Alpen waren betroffen, neben Bayern, Österreich, der Schweiz und dem Elsass auch das Königreich Württemberg.“

Die Renninger Bauern bemerken das vor allem an Preissteigerungen. „Der Scheffel Dinkel kam von 11 Gulden nach und nach bis auf 40 Gulden“, notieren die Renninger Räte an jenem Samstagabend, als sie zusammensitzen und über ihr Schicksal klagen. Aber nicht nur der Dinkel, auch die Kartoffeln und all die anderen Früchte sind jetzt knapp – und teuer. Denn schon seit sechs Jahren, seit 1810, ist das Wetter in der Region denkbar ungünstig. Für die Menschen in Württemberg – die meisten sind Selbstversorger – eine einzige Katastrophe.

Gerüchte um einen großen Knall im Orient

Und keiner weiß, warum ausgerechnet sie das Schicksal so schlimm trifft. Es gibt zwar erste Gerüchte. Irgendwo im fernen Orient soll es einen gewaltigen Knall gegeben haben. Sir Thomas Stamford Raffles ist seit 1811 Gouverneur der britischen Kolonie auf Java (heute Indonesien). Er ist einer der wichtigsten Berichterstatter der dortigen Ereignisse für die europäische Heimat.

Zwar hört er den großen Knall. Aber auch Sir Raffles ist ratlos. Waren es also doch militärische Handlungen, derentwegen die Welt unterzugehen droht?

Egal, den Hungernden in der Heimat muss geholfen werden. „Endlich“, atmen die Renninger Ratsherren auf und greifen sofort zum Füllfederhalter. „Endlich wurde durch allerhöchsten Befehl Seiner königlichen Majestät Wilhelm ein bestimmter Tax an die Brotfrüchte unterm 10. Juni 1817 gemacht, so daß der Scheffel Dinkel nur noch auf 14 bis 16 fl kommen durfte.“

Der Hunger wird immer größer

So steht es noch heute im Gemeinderatsprotokoll vom 2. August 1817, das der Renninger Stadtarchivar Mathias Graner studiert. „Diese Preisgrenze war aber nicht die einzige Maßnahme von König Wilhelm von Württemberg“, erklärt er. „Er gründete auch das Volksfest als Landwirtschafts- und Viehmesse und im Schloss Hohenheim eine Landwirtschaftliche Lehr-, Versuchs- und Musteranstalt.“

Diese Maßnahmen greifen aber erst später. Der Hunger in Renningen ist jedoch eben jetzt Realität. Und er wird immer größer. Denn, wenn es im Sommer und Herbst nichts zu ernten gibt, dann haben die Menschen auch im folgenden Winter nichts zu essen. Die Stadt Renningen reagiert und legt einen Fruchtvorrat an. Dinkel, Hafer, Gerste und Kartoffeln kaufen die Stadtoberen ihren Bauern ab.

„Dies sollte zum einen verhindern, dass diese Nahrungsmittel aufgrund der hohen Preise in andere Orte verkauft werden“, erklärt der Stadthistoriker. „Zum anderen sollte dadurch auch Vorrat für die ärmeren Familien des Ortes angelegt werden.“ Dennoch sind in seinen Archivquellen noch Spuren zu finden, die auf einen größeren Aufruhr hindeuten.

Ärger um verkauftes Essen

Am 2. Juli 1817 notieren die Stadtherren in ihr Gemeinderatsprotokoll voller Ärger: „Es gab aber gleich hiernach durch mehrere Bürger einen Auflauf“, steht da. „Bei der gegenwärthigen Not allhier soll diese Frucht durchaus nicht aus dem Orte gelassen werden.“ Die Übeltäter waren die Renninger Bürger Simon Eisenhardt sowie Michel und Hans Blaich, die einem Bäcker aus Holzgerlingen Getreide, Erbsen und Bohnen verkaufen – und dabei den Höchstpreis umgehen. Zwar hat das Oberamt in Leonberg dies genehmigt, aber erst nach dem kleinen Volksaufstand in Renningen.

Hintergrund war, dass ein Bäcker aus Holzgerlingen bei den Bürgern Simon Eisenhardt und Michel und Jerg Blaich Frucht, Wicken und Bohnen gekauft hat. Dabei wurde ihm und den Verkäufern erlaubt, durch Umgehung des durch die Obrigkeit festgesetzten Höchstpreises die benötigte Frucht aus dem Ort zu bringen.

Zwar bescheinigte das Oberamt die Rechtmäßigkeit des Verkaufs, doch nach dem Auflauf der Bürger bittet die Gemeinde das Oberamt, das Getreide und „die von den zwei Blaichen und Eisenhardt verkauften Früchte dem hiesigem Armenverein zu überlassen“.

Erst 100 Jahre später ist die Ursache klar

Was aber die Ursache für dieses Jahrhundertunglück war, werden die Renninger zu Lebzeiten nicht mehr erfahren. Erst 100 Jahre später ist klar: der Vulkan Tambora auf der Insel Sumbawa (heute Indonesien) war schon im April 1815 ausgebrochen. Noch 2000 Kilometer entfernt konnte man den Knall hören. Es sollte der stärkste Vulkanausbruch sein, den die Menschheit bis dahin dokumentiert hat. Zehntausende in Südostasien sterben durch die direkten Auswirkungen.

Die kleinen Partikel, die der Vulkan aufgewirbelt hat, waren auch in Europa für die Klimaveränderung verantwortlich. Für den roten Schnee und den vielen vielen Regen. Der Seufzer der Ratsherren ist daher tief, als sie an jenem Samstagabend den Schlusssatz für das Protokoll formulieren: „Gott wolle uns für die Zukunft dafür in Gnad bewahren!“