Die Gemeinderäte hat Thomas Thomma von sich überzeugt, seine Familie aber nicht von Reutlingen. Deswegen bleibt der Volkswirt in Brüssel, und die Stadt muss sich einen neuen Finanzdezernenten suchen.

Reutlingen - Von einem „absolut außergewöhnlichen Fall“ spricht Norbert Brugger vom Städtetag Baden-Württemberg. Ihm ist aus den letzten 20 Jahren kein ähnlicher Vorgang bekannt geworden wie das, was sich jetzt in Reutlingen zugetragen hat: Der vom Gemeinderat am 21. März gewählte Finanz- und Wirtschaftsbürgermeister Thomas Thomma tritt sein Amt nicht an, obwohl er die Wahl angenommen und mit der Oberbürgermeisterin Barbara Bosch in den vergangenen Wochen Gespräche in Vorbereitung der Amtsübernahme geführt hat. „Diese Absage kommt völlig überraschend“, sagt die Rathauschefin.

 

Nun muss das Wahlverfahren neu aufgenommen werden und eine neue Ausschreibung erfolgen. Ob das noch vor der Sommerpause geschieht, ist offen. „Dieses Prozedere wird die Wahl eines neuen Finanzdezernenten um Monate verzögern“, sagt jedenfalls Barbara Bosch. Die Amtszeit von Finanzbürgermeister Peter Rist endet am 5. Juni. Der hatte kein zweites Mal kandidiert, weil er, so seine Begründung, eine Karriere als Schlagersänger anstrebt.

„Überteuerter Wohnungsmarkt“

Thomas Thommas Begründung wird zumindest in der Stadt heiß diskutiert. Der in Brüssel bei der EU-Kommission tätige Programmmanager für das Bundesfinanzministerium nannte gegenüber der OB und lokalen Medien persönliche Gründe. Seine Tochter besuche in Brüssel die achte Klasse einer internationalen Schule. Und das englischsprachige Schulangebot sei in der Region um Reutlingen und Stuttgart sehr schlecht. Und dann bemängelte der 47-Jährige den „leer gefegten und überteuerten Wohnungsmarkt“. Er wolle sich durch eine berufliche Entscheidung im Lebensstandard nicht verschlechtern, erklärte der Mann, den eine Beamtenbesoldung von mehr als 8000 Euro monatlich erwartete.

„Von einer Ohrfeige für die ganze Stadt Reutlingen“, sprach ein Reutlinger angesichts dieser Argumente. Ob die angeführten Gründe die einzigen sind für die Absage, das wird allenthalben diskutiert. Erst Wochen nach der Wahl soll Thomma seiner Familie die Stadt unter der Achalm vorgestellt haben. So stellt sich die Frage, ob der Kandidat, der schon in Berlin, Paris und New York tätig war, einen möglichen Umzug in Baden-Württembergs kleinste Großstadt in ausreichendem Maße mit seiner Ehefrau und seiner Tochter durchgesprochen hat, und zwar vor der Wahl.

SPD-Stadtrat Weigle: Sehr sauer und betroffen

Ihrem Vorschlagsrecht entsprechend hatte die Reutlinger SPD Thomma ins Spiel gebracht. Und der bayerische Schwabe überzeugte viele Gemeinderäte mit dem Argument, dass er „näher ran“ an die Auswirkungen seiner Arbeit wolle, als es in den internationalen Metropolen der Fall war.

Entsprechend groß ist die Enttäuschung, nachdem selbst der SPD-Landesvorsitzende und Stuttgarter Doppelminister Nils Schmid (SPD) Thomma nicht hatte umstimmen können. Der Reutlinger SPD-Gemeinderatsvorsitzende Helmut Treutlein spricht von einer „nicht verständlichen und nicht nachvollziehbaren Entscheidung“. Der SPD Stadtrat Stefan Weigle erklärte am Mittwoch, „sehr sauer und betroffen“ zu sein und sieht die SPD in einer „schwierigen Situation“. Über neue Namen zu reden sei noch verfrüht. Thomma hatte die Wahl im März mit 23 zu 17 Stimmen gegen Reutlingens Stadtkämmerer Frank Pilz gewonnen. Ob dieser ein zweites Mal kandidieren wird, war gestern noch offen.

Städtetagsmitarbeiter Brugger erinnert sich nur an einen Fall, in dem ein Wahlsieger sein Bürgermeisteramt nicht antrat. Ein „Juxkandidat“ war in einer südbadischen Gemeinde gewählt worden, mangels weiterer Bewerber. Diese Wahl wurde wiederholt, doch der unfreiwillige Wahlsieger bezeichnete sich fortan auf seinem Briefbogen dreist als „Bürgermeister a. D.“