Ärzte und Eltern hoffen bislang vergeblich auf den Nachweis, dass Ritalin & Co. den Kindern mit ADHS fürs Leben helfen.

Stuttgart - Wenn ein Kinderarzt oder Psychiater ADHS diagnostiziert, rät er - neben einer Psychotherapie - oft zu Ritalin. Es ist eine Empfehlung, die viele Eltern in Bedrängnis bringt. Wenn sie nur in Erwägung ziehen, dem Kind Tabletten zu geben, empören sich ihre Freunde. Andere wiederum beschwichtigen mit Verweis auf ihre eigene Erfahrung: Ihr Sohn könne endlich konzentriert die Hausaufgaben erledigen, seit er die Medikamente nimmt. Es ist ein Ringen um das Für und Wider. Im Kern kreist die Diskussion über die Frage, ob sich das Kind mit oder ohne Medikamente besser entwickelt und der langfristige Nutzen die Risiken aufwiegt.

 

Der Wirkstoff in Ritalin und den verwandten Medikamenten Medikinet und Concerta ist das Stimulans Methylphenidat. Die kurzzeitige Wirksamkeit von Methylphenidat wurde in mehr als 200 Studien untersucht. Deshalb sind sich Mediziner darin einig, dass die Arznei bei etwa 70 Prozent der Kinder mit ADHS die Symptome lindert: Sie werden aufmerksamer und können sich besser konzentrieren. Sie lassen sich weniger leicht durch äußere Reize ablenken. In der Schule zappeln oder rutschen sie weniger auf dem Stuhl herum und sind weniger impulsiv. Kritiker sagen dazu: die Kinder funktionieren mit Ritalin besser.

Die Kinder leiden häufig unter Schlafstörungen

Der Linderung der Symptome stehen allerdings Nebenwirkungen gegenüber. Die Kinder leiden häufig unter Schlafstörungen und verlieren den Appetit. Verbreitet sind auch Bauch- und Kopfschmerzen. Überdies werden schwere, weitaus seltenere Nebenwirkungen diskutiert. Da Methylphenidat den Blutdruck und den Puls anhebt, könnte die Gefahr eines plötzlichen Todes durch Herzversagen oder Schlaganfall bei Kindern mit angeborenem Herzfehler zunehmen. Die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA kommt zwar vorläufig zu dem Schluss, dass das Risiko nicht höher ist als in der übrigen Bevölkerung, mahnt aber zur Vorsicht.

Alles in allem sind die kurzzeitigen Nebenwirkungen aber entweder sehr selten oder mild. Deshalb halten Ärzte an der medikamentösen Behandlung fest, zumal sie davon ausgehen, dass Kinder mit ADHS davon langfristig profitieren: dass sie die Schule leichter meistern, in sozialer und emotionaler Kompetenz zulegen, seltener straffällig und drogensüchtig werden. Diese Verheißung nähren auch die Hersteller gern.

Die Bindungen zu Freunden sind weniger stabil

Denn erdrückend viele Studien haben ergeben, dass ein unbehandeltes Aufmerksamkeitsdefizit mit schlechteren Noten und später häufig mit Arbeitslosigkeit, Straftaten, Autounfällen und Drogenmissbrauch einhergeht. Auch die Bindungen zu Freunden und Lebenspartnern erwiesen sich - verglichen mit der übrigen Bevölkerung- in Studien als weniger stabil.

Was Ursache und was Folge ist, ob das Leben mit einer ADHS-Diagnose allein schon eine ausgrenzende und folgenträchtige Lebenserfahrung ist oder ob ADHS selbst die Auffälligkeiten provoziert, ist ungeklärt. Wie jede Statistik offenbaren auch diese keine ursächlichen Zusammenhänge. Sie erlauben auch keine Prognosen für das Einzelschicksal. Dennoch hoffen Psychiater, Neurologen und Pediater, dass sich das ernüchternde Bild einmal aufhellen wird.

Kinder mit Ritalin erzielen etwas bessere Noten

Bislang hoffen sie aber vergebens: Medikamentös behandelte Kinder mit ADHS sind als Erwachsene nicht öfter, aber auch nicht seltener süchtig als unbehandelte Kinder mit ADHS. Das förderten rund ein Dutzend Studien zu Tage. "Die Medikamente schützen nicht vor Drogenmissbrauch. Aber sie schaden auch nicht", fasst die ADHS-Forscherin Judith Rapoport von der US-Forschungsorganisation NIH zusammen.

Auch die schulischen Leistungen verbessern sich nicht langfristig. Zwar erzielen die Kinder mit Ritalin etwas bessere Noten. Beispielsweise wertete Richard Scheffler von der Universität von Kalifornien in Berkeley die Resultate von 594 Kindern mit ADHS vom Kindergarten bis zur fünften Klasse aus. Die medikamentös Behandelten waren in Mathematik und im Lesen geringfügig besser, konnten aber nicht zur Gruppe der Kinder ohne ADHS aufschließen, schrieb Scheffler 2009 im Fachjournal "Pediatrics".

Auch in Kombination mit Psychotherapie nicht langfristig wirksam

In der Mehrzahl der Studien nivelliert sich der Leistungsschub nach drei Jahren. "Es gibt keine Belege dafür, dass man als Erwachsener besser dasteht, wenn man als Kind ADHS-Medikamente bekommen hat", sagt die kanadische Psychiaterin Margaret Weiss von Universität von British Columbia.

In der weltweit bekanntesten Studie, der sogenannten MTA-Studie, waren die Medikamente auch in Kombination mit einer Psychotherapie nicht langfristig wirksam. Zwei Gruppen waren untersucht worden: Kinder, die medikamentös behandelt wurden, und Kinder, die nur dachten, ein ADHS-Mittel zu erhalten, aber in Wirklichkeit ein Scheinmedikament einnahmen. Acht Jahre später unterschieden sich die Kinder weder in den Schulnoten noch in der Zahl der Inhaftierungen oder der Einweisungen in eine psychiatrische Klinik.

Der motorische Kortex entwickelt sich schneller als üblich

Dabei gaben die Veränderungen im Gehirn den Forschern durchaus Anlass zur Hoffnung: Bei ADHS reift besonders der präfrontale Kortex, eine Hirnregion, die für Planung und Entscheidungen zuständig ist, um Jahre verzögert, wie Judith Rapoport anhand der Daten von 446 Kindern und Jugendlichen darlegte. Nur der motorische Kortex, der Bewegung koordiniert, entwickelt sich schneller als üblich.

Unter dem Einfluss von Medikamenten scheint sich die Gehirnentwicklung der Kinder mit ADHS gesunden Kindern anzugleichen. Diese Normalisierung beobachtete Rapoport an der sogenannten Konsolidierungsphase, die zum Ende des ersten Lebensjahrzehnts die Hirnrinde dünner werden lässt. Bei ADHS setzt dieses Schrumpfen verzögert ein, läuft aber um ein Vielfaches rasanter ab als bei gesunden Kindern. Unter Psychostimulanzien verlangsamt sich der Vorgang, wird allerdings noch langsamer als bei Gesunden. Die Interpretation dieser Daten ist eine Kunst für sich. Für Rapoport ist klar: "Unter dem Einfluss der Medikamente normalisiert sich die Gehirnentwicklung."

Veit Rößner von der Universitätsklinik Dresden fand einen ähnlichen Effekt in Hirnscans von ADHS-Patienten. Weshalb die Symptome trotz Therapie teilweise fortbestehen, darüber gehen die Meinungen der Mediziner auseinander. Der Psychopharmakologe Ian Wong von der Universität von London mutmaßt, dass das Gehirn durch die Stimulanzien so verändert wird, dass ADHS-Kinder auch als Erwachsene die Medikamente nehmen müssten. Andere Forscher glauben, dass viele Kinder zu früh die Medikamente absetzen. Nach einem Jahr nimmt rund die Hälfte die Tabletten nicht mehr ein. "Das ist ein Problem", bestätigt Rößner. Würden die Arzneien länger eingenommen, könnten diese auch langfristig wirken, spekuliert er.

Die Diagnose ADHS

Häufigkeit: Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) ist die häufigste psychiatrische Erkrankung unter Kindern und Jugendlichen. Es gibt Hinweise auf eine genetische Komponente: Wenn Geschwistern oder Eltern eine ADHS-Diagnose gestellt wurde, ist das Risiko erhöht, dass weitere Kinder dasselbe Schicksal ereilt. Trotzdem ist ADHS keine rein erblich bedingte Krankheit.

Ursache: Die Ursache für ADHS ist unklar. Neurologen vermuten, dass Botenstoffe in bestimmten Hirnregionen Informationen langsamer übertragen. Als Einflussfaktoren werden zudem ein übermäßiger Medienkonsum und die Erziehung der Eltern verdächtigt. Möglich sind auch Umweltgifte: Seit 2010 müssen Lebensmittel mit bestimmten Azofarbstoffen oder Chinolingelb in der EU den Warnhinweis tragen: „Kann Aktivität und Aufmerksamkeit bei Kindern beeinträchtigen“.

Einstweilen bleibt so nur das unbefriedigende Fazit der Kanadierin Margaret Weiss: "Die Medikamente wirken in der Gegenwart, aber sie nützen nicht für die Zukunft. Warum, wissen wir nicht."