Der Autor Michael Köhlmeier läuft zur Höchstform auf. Mit „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ hat er auf mehr als sechshundert Seiten einen grandiosen Schelmenroman vorgelegt. StZ-Literaturredakteur Stefan Kister erklärt, warum man das Buch lesen sollte.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Schelmenromane sind ihrem heiter-leichtfertigen Gattungsbegriff zum Trotz eigentlich Katastrophenromane. Denn der Schelm wird erst zu einem solchen in einer in Trümmer liegenden Welt. Dass er Regeln und Konventionen listig unterläuft, ist deshalb lässlich, weil diese längst die Kraft eingebüßt haben, das Ganze sinnvoll zu ordnen. Schelmenromane blühen auf dem blutgetränkten Boden der Geschichte, nach großen Kriegen wie jenem in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, der Grimmelshausens „Simplicissimus“ gebar, oder dem des vergangenen Jahrhunderts, der das Europa formte, in dem Joel Spazierer, der Held von Michael Köhlmeiers neuem Roman, seine titelstiftenden Abenteuer durchlebt.

 

Abenteuer – was man eben so nennt. Aber man sollte sich das bei Köhlmeier und dessen schöpferischem Alter Ego Sebastian Lukasser, der den Schreibprozess wie schon in dem Weltpanorama des Vorgängerromans „Abendland“ begleitet, nicht allzu betulich vorstellen. Dieser Joel Spazierer ist nicht einfach nur ein Schelm, sondern ein mehrfacher Mörder, ein Sträfling, ein Stricher, ein Dealer, vor allem aber ein unwiderstehlicher Lügner. Als solcher konkurriert er nicht nur mit der auf guten Lügen gegründeten Arbeit des Schriftstellers, sondern mit dem umfassenden Schöpfungswerk Gottes. Denn auch die in ideologische Blöcke zerfallene Nachkriegsordnung, durch die sich Spazierer virtuos nach oben mogelt, enthält eine metaphysische These, nicht anders als die gefallene Welt seines barocken Vorgängers.

Stalinistische Schergen

Diese These wird in der Urszene entwickelt, mit der sowohl der Roman wie das Bewusstsein seiner unheimlichen Hauptfigur anhebt und lässt sich auf den symbolisch weit gefassten Nenner bringen: Joel ist allein zu Hause – auch wenn Joel zu diesem Zeitpunkt noch ganz anders heißt, nämlich András Fülöp.

Stalinistische Schergen haben in Ungarn die Familie des noch nicht ganz Vierjährigen verschleppt. Nach dem Erwachen aus dem Mittagsschlaf findet er sich in der verwaisten Budapester Wohnung wieder und schafft sich in kosmischer Einsamkeit seine eigene Welt. Aus Blumentopferde knetet er Straßen und Städte, lässt Flussläufe aus dem Wasserhahn entspringen und regiert mit seiner Zudecke wie einem Königsmantel angetan über seine Schöpfung bis ans Ende aller Tage – im Falle des kleinen Demiurgen sind das immerhin vier. Alles weitere im Leben Joels leitet sich aus dieser einsamen Genesis ab.

Joel, das nur nebenbei, bedeutet: Jahwe ist Gott – auch wenn der Junge sich fortan eher als Teufel gebärdet. Er macht er sich die Wirklichkeit untertan, indem er sie seiner Einbildungskraft unterwirft. Nicht mehr Blumenerde, sondern die Lüge ist ihr innerstes Prinzip. „Der Lügner darf keine Autorität, nicht einmal die einer Idee, über sich dulden“, lautet eine der vielen Maximen Spazierers. Und eine der unheimlichsten Pointen dieses Romans liegt darin, dass sein dunkler Held mit ebendieser Wahrheitsversenkung ins Zentrum der historischen Welt trifft, die er durchmisst. Die Ausgeburten seiner Fantasie kommunizieren aufs Beste mit realen politischen Szenerien. Wohin er kommt, verfallen die Menschen Spazierers flexiblen Identitäten, und immer landet er ganz oben. Was das Schlimmste ist: der Leser macht darin keine Ausnahme.

Absurd-Philosophie im Knast

Dieser unheimliche Bruder im Geiste der arglosen Schelme der Weltliteratur zwingt uns seine verbrecherische Geschichte auf – und wir können doch nicht von ihm lassen, auch wenn er seinen Gönnern ungerührt ins Gesicht schießt. Wir folgen ihm und seinen schönen Sommersprossen von Ungarn nach Österreich, wir teilen seine Zelle in einem schweizerischen Knast, wir mäandern geduldig durch das raffinierte Erzählkonstrukt aus Vor- und Rückblenden und bleiben atemlos bei der Sache, auch wenn sich herausstellt, dass die Hälfte seiner Abenteuer eher philosophischer Natur ist. Und das nicht erst, seit Spazierer später in der DDR einen Lehrstuhl für wissenschaftlichen Atheismus innehat, um in erhabenem Nonsens die letzten Dinge marxistisch-theologisch ineinander zu verschränken.

Warum? Warum gehen alle diesem amoralischen Wesen auf den Leim, das in der Regel nur „Ja“, „Nein“ und „Weiß nicht“ von sich gibt und skrupellos alle Sentenzen recycelt, die ihm im Laufe seines gut sechshundert Seiten langen Lebens begegnen? Nun, weil er der Held eines Schelmenromans ist. Darin, so klärt Spazierer über seine Lebensgeschichte einmal auf, tut und erlebt einer Schreckliches, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden, „weil eigentlich nicht sein Schicksal interessiert, sondern das seiner Zeit, womit alle Menschen gemeint sind – außer ihm“. Wir sind gemeint. Vielleicht ist das die abgründigste Entsprechung, die uns dieses grandiose Lügenwerk zumutet.