Tom Wolfe porträtiert in seinem Roman „Back to Blood“ eine dekadente Gesellschaft in Miami.

Stuttgart - Man hört ihm einfach gerne zu. Wenn man sich dafür entscheidet, eine Viertelstunde Lebenszeit darauf zu verwenden, sich von Tom Wolfe erzählen zu lassen, wie eine Ferrari-Fahrerin einer Hybrid-Gattin den Parkplatz wegschnappt, dann schleicht sich außer dem Röhren des Boliden unweigerlich auch die Stimme des Erzählers vom brütend heißen Miami aus ins überheizte Wohnzimmer. Man wähnt ihn geradezu körperlich anwesend, diesen Typen, der sich bemüht, auf Fotos in seinen weißen Anzügen und unter diversen gangsteraffinen Hutmodellen immer ein bisschen kauzig rüberzukommen. Man glaubt, den Meister der Superzeitlupe grinsen zu sehen, während er sich einen Spaß daraus macht, die Parkplatz-Schmach der Chefredakteursgattin in den Einzelheiten zu schildern, für die heutzutage eigentlich niemand mehr Zeit hat. Klar, Tom Wolfe ist geschwätzig – zehn Seiten seines 768-Seiten Epos’ „Back to Blood“ nimmt der Parkplatz in Beschlag. Aber dem 81-Jährigen gelingt es, Geschwätzigkeit zu einer Tugend umzudefinieren: Bitte, erzähl weiter, Tom!

 

Es gibt noch weitaus bessere, packendere Reportagen in „Back to Blood“ als jene vom Parkplatz, die Tom Wolfe eher beiläufig als Ouvertüre rausballert. Die vom Eröffnungstag der Kunstmesse Art Basel Miami Beach ist eine der stärksten, und auch sie handelt davon, dass einer dem anderen was wegschnappt: Diesmal gelingt es einem ziemlich verblödeten Geldmenschen, kurz vor einem anderen verblödeten Geldmenschen einen Messestand zu erstürmen, um in ein paar Minuten 17 Millionen Dollar für eine Handvoll pornografischer Glasfräsereien zu verpulvern, hauptsächlich deshalb, damit der Konkurrent die nicht kriegt. „Wenn ich ihnen einen Rat geben darf“, so verhöhnt der Sieger den Verlierer, „einfach nur artig in der Gegend rumstehen, das reicht nicht.“

Das ist Tom Wolfes Thema: die Gier. Und das ist sein Steckenpferd: die Verachtung. Die maßlose, ungenierte Verachtung, die in „Back to Blood“ so ziemlich alle so ziemlich allen und allem entgegenbringen: die Reichen dem Geld und den Umgangsformen, die ein halbwegs erträgliches Zusammenleben zu gewährleisten hätten. Sie brauchen sich in ihren Penthouses und Villen nicht darum zu kümmern, weil sie die Leere jederzeit im Luxuslokal Chez Toi ersäufen können, weil sie mit ihren PSstarken Speedbooten sogar das Meer zerschreddern, wenn ihnen danach beliebt.

Roman mit filmreifer Handlung

Die andere Art der Verachtung, die der womöglich zu kurz Gekommenen, ist Tom Wolfe genauso zuwider wie die jämmerliche Aufgeblasenheit, die er dem Kunstbetrieb attestiert, dem angeblich so kunstsinnigen Oligarchen, dem von Eitelkeit zerfressenen Psychiater, dem ängstlichen Chefredakteur des „Miami Herald“ und dem Rest der Dazugehör-Bagage. Diese andere Art der Verachtung, Rassismus, zersetzt Tom Wolfes Miami wie ein bösartiger Tumor: Die sogenannten Weißen verabscheuen die kubanischstämmigen Bewohner des Molochs, die Kubaner verachten die sogenannten Schwarzen. Und all diese Verkommenheit wird von der Hintergrundmusik armseliger Orgien zerhackt, schrillen synthetischen Beats, und von einer Sonne geflutet, die Tom Wolf ausdauernd „Heizstrahler“ nennt.

Und das ist Tom Wolfes Kunstkniff: Dass er seine Rebellion in die beiden sportlich durchexerzierten Disziplinen zu verfrachten vermag, in denen er eine sensationelle Meisterschaft erlangt hat: Reportage und Faustschlag-Metapher. Zwei Mädchen sehen bei ihm so aus, „als schwämmen ihre Augen in vier schwarzen Tümpeln“. Weil es Tom Wolfe zudem schafft, ein paar starke Charaktere durch seine Dauerläufe geistern zu lassen und deren Tun gekonnt miteinander verknüpft, gerät ihm „Back to Blood“ eben nicht nur zur stellenweise genialen Reportagesammlung, sondern zu einem ausgewachsenen Roman mit actionreicher, filmreifer Handlung.

Vordergründig geht es darin um ein paar Monate im Leben zweier Mitzwanziger, die sich einen Rest an Anstand bewahrt haben: Nestor Camacho, Cop auf Probezeit, wird von seinem Chef auf den Mast eines Segelschiffs in der Biscayne Bay gehetzt, um einen Kubaflüchtling herunterzuholen. Das tut er auf artistische Weise, riskiert sein Leben dabei, fühlt sich als Held, aber wird von der kubanischen Gemeinde fortan als Verräter geschmäht. Seine Freundin Magdalena verlässt ihn an Tag darauf. Sie will raus aus dem tristen Kubaner-Vorort Hialeah und sie glaubt, dass ihr erfolgreiche Männer den Ausweg ebnen. Und dann mischt sich ein junger Journalist ein, der auf seine Art getrieben ist – vom Knüller. Er will einen Kunstskandal aufdecken.

Happy End oder nicht?

All das führt zu starken Szenen in einem Atelier, auf dem Wasser, im Altersheim, in einer Crackdealer-Bude, und so weiter. Der große Amerika-Sezierer Tom Wolfe nutzt Miami noch lustvoller als literarisch-exotische Spielwiese, als er einst in seinem legendären Romandebüt „Fegefeuer der Eitelkeiten“ mit New York verfuhr. Aber dabei unterlaufen ihm grobe Schnitzer.

Zum Beispiel schreibt er, dass Nestors iPhone nach einem Rettungseinsatz im Meer anstandlos SMS ausspuckt. Und er befleißigt sich oft einer nervigen Comicsprache: „ahhHHHH hock hock hock hock – keuch.“ Und diese Marotte der ständigen Wortwiederholung: „Er ist so widerlich! widerlich! widerlich! widerlich! widerlich!“ Überhaupt diese Wiederholungen. Da erzählt Wolfe von Magdalenas Date mit dem Widerling, anschließend berichtet er davon, wie Magdalena zwei Mal von diesem Date erzählt. Wolfes Angewohnheit, sich ständig in die Hirne seiner Protagonisten zu schleichen, um neben den Ereignissen auch die befürchteten Möglichkeiten und die subjektive Realität zu notieren, bringt das Fass der Fantasie fast zum Überlaufen, sodass man beinahe nicht bemerkt, dass Wolfe zweimal das Wort „Stuttgart“ notiert.

Der neue Wolfe ist anstrengend, aber es gibt dennoch zwei Arten, „Back to Blood“ auf die leichte Tour zu erleben: Entweder wartet man auf die Verfilmung, in der vor zehn Jahren Jennifer Lopez gut die weibliche Hauptrolle hätte spielen können. Oder man verschenkt den Schmöker, lässt sich später eine Viertelstunde lang die ersten siebenhundert Seiten erzählen, und genießt anschließend lesend die thrillerhaft sich zuspitzenden letzten hundert samt einer überraschenden Art von Happy End, wie es lapidarer kaum möglich ist.

Ist es wirklich eines? Oder spiegeln die letzten Zeilen, die den Leser dann doch seltsam abrupt ins überheizte Wohnzimmer zurückbeamen, vielleicht eher die Sentimentalität eines alten Mannes, der weiß, dass „Back to Blood“ sein Meisterwerk hätte werden können, wenn er nicht so geschlampt hätte? Oder wenn er – so stellt man sich diesen Typen im weißen Anzug zumindest vor – wenigstens ein paar Mal auf die Warnungen seines Lektors gehört hätte? Man möchte ihn fragen. Jetzt, wo er sich wieder verflüchtigt hat, vermisst man diesen kauzigen Geschichtenerzähler sehr.