Bundeskanzlerin Angela Merkel recycelt für Bayreuth ein Kleid. Man kann das als politische Bildsprache verstehen – oder einfach als Auftritt eines Menschen, dem Kleider weniger bedeuten als andere Dinge.

Bayreuth - Haben Sie den Skandal von Bayreuth gesehen? Da trugen doch die Herren Westerwelle, Rösler und Bahr tatsächlich Abendgarderobe, die sehr verdächtig ans Jahr zuvor gemahnte. Und an das davor. Und an das davor. Darüber redet niemand. Aber die Kleiderwahl der Kanzlerin vom Mittwochabend ist tags darauf der Kantinentalk. Kann das unser Ernst sein? Wir leben in einer Demokratie, die es nicht schafft, sich ein ordentliches Wahlrecht zu geben. Wir suchen verzweifelt nach einer Therapie für unsere kränkelnde Währung. Und zu allem Übel haben neueste Forschungen ergeben, dass der IQ von Frauen den der Männer übersteigt!

 

Aus Versehen hat die Kanzlerin nicht zu dieser Robe gegriffen

Alles Dinge, über die sich zu diskutieren lohnte. Aber wir reden über eine Robe aus petrolfarbener Seide, über die man sich eigentlich nicht unterhalten muss: gnädig oberarmbedeckendes Wickeltop, streckender Sechsbahnenrock in Godet-Form, zeitlos walkürenhafter Charme. Sitzt gut, kaschiert durch die Raffung unerwünschte Überschüsse und Defizite, changiert angemessen zwischen altersgemäß und staatsfrauenhaft, die Farbe schmeichelt der Trägerin. Aber: die Kanzlerin hat das Kleid schon mal getragen! Darf sie das? Soll sie das? Will sie uns damit etwas sagen?

Eins kann man mit Sicherheit feststellen: Aus Versehen hat Angela Merkel nicht zu dieser Robe gegriffen. Die zu Beginn ihrer Amtszeit eher sorglos gekleidete Kanzlerin hat viele Erfahrungen mit der öffentlichen Reaktion auf ihre Auswahl gemacht. Wir erinnern uns an einen der ersten Auftritte im Ehrenhof des Kanzleramtes, als sie einen dunklen Tuchmantel trug, der aussah, als habe sie ihn von Helmut Kohl geerbt. Heute kann man den Blazer-Hosen-Stil der Kanzlerin als durchdacht und neutral bezeichnen. Feminine Anklänge finden sich allenfalls in Form wechselnder Colliers oder neuerdings als farblich abgesetzte Aufschläge am Ärmel. Zum ultimativen weiblichen Bekleidungsstück, dem Rock, greift Merkel für Staatsgeschäfte nie, anders als Politikerinnen in Nationen mit strengem geschlechtsspezifischem Dresscode wie den USA oder modischem Ehrgeiz wie Frankreich.

Merkel weiß, dass ihre Kleiderwahl nicht unkommentiert bleibt

Anders sieht bei Gala-Anlässen aus. Da schert Merkel aus in Richtung Glamour. Und da passiert dann auch mal ein Malheur. Unvergessen sind die Schweißflecken auf jenem aprikotfarbenen Kleid und das Wuchtbrummendekolleté von Oslo.

Warum also nun das petrolfarbene Stück aus dem Schrank? Bilder aus Bayreuth, das weiß Merkel, sind wichtig, an ihnen lässt sich deuteln. Mag also sein, dass die Kanzlerin vermitteln wollte: mitten in der Krise kann die schwäbische Hausfrau locker auf ein neues Kleid verzichten. Vielleicht war die Botschaft aber auch eine andere. Die, dass sich die Republik gerne mit etwas anderem beschäftigen kann als mit den Roben ihrer Regierungschefin.