Die Verbindungen zwischen Baden-Württemberg und Syrien sind enger als man vermutet: Die Reutlinger Firma Heinrich Schmid will syrische Flüchtlinge ausbilden – und erinnert damit auch an ihre eigene Vergangenheit.

Reutlingen - Syrische Lehrlinge könnten bald in Reutlingen eine Ausbildung aufnehmen. Und das wäre für die Stadt nicht einmal ungewöhnlich. Die jungen Flüchtlinge von heute würden damit vielmehr eine Tradition fortsetzen, die im 19. Jahrhundert ihre Wurzeln hat.

 

Carl-Heiner Schmid, der Seniorgesellschafter der Reutlinger Unternehmensgruppe Heinrich Schmid, sagt jedenfalls: „Wir treten dem Gedanken an syrische Lehrlinge nahe.“ Das läge für die Familie Schmid nicht so fern. Die Verbindung der Familie nach Syrien, beziehungsweise ins Heilige Land, ist eng, – wie die vieler Familien aus Württemberg.

Carl Wieland, der Großvater von Carl Heiner Schmid, ist selbst zusammen mit seinem Bruder Rudolf in die Annalen eingegangen. In den Jahrbüchern des Bruderhauses Reutlingen werden die Brüder als „syrische Lehrlinge“ geführt, berichtet Carl-Heiner Schmid. Seine Mutter sei 1914 in Aleppo geboren.

Die Mitglieder der Tempelgesellschaft wirkten in Palästina

Die Erklärung für die vielen engen Verbindungen zwischen Württemberg und Syrien ist die Tempelgesellschaft. Ihre Spuren hütet im evangelischen landeskirchlichen Archiv in Stuttgart der Historiker Jakob Eisler. Die Tempelgesellschaft ist nicht zu verwechseln mit dem Templerorden, einem geistlichen Ritterorden des Mittelalters. Die württembergische Tempelgesellschaft ging aus dem Pietismus hervor. Ihr Gründer ist Christoph Hoffmann, der Sohn des Gründers der württembergischen Brudergemeinde Korntal, legt Eisler dar. „Der Deutsche Tempel wird 1861 zu einer selbstständigen religiösen Gemeinschaft“, heißt es im Band „Deutsche im Heiligen Land. Der deutsche christliche Beitrag zum kulturellen Wandel in Palästina“, den das landeskirchliche Archiv herausgegeben hat.

Hoffmann diskreditierte die Amtskirche als „Babel“, die Templer strebten danach, ein im biblischen Sinne neues Jerusalem zu bauen. Das missfiel der Amtskirche. Die Templer wurden ausgeschlossen. Die Mitglieder der Freikirche sehen sich bis heute nach eigener Darstellung als „lebendige Bausteine an einem Gotteshaus, das sie gemeinsam zu bilden bestrebt sind.“

Die armen Württemberger wanderten in Scharen aus

Im 19. Jahrhundert ging es laut Eisler für viele arme Württemberger auch darum, für ihre Familie eine Zukunft zu sichern. In Scharen wanderten sie von 1868 an als Templer nach Palästina aus, beseelt von der Mission „am eigenen Beispiel vorzuleben, wie wahre Christen leben und arbeiten.“ So beschreibt Jakob Eisler die Motivation der Siedler. Fleißig waren sie, bauten Häusle nach schwäbischem Vorbild, gossen Rohre für das Abwassersystem von Tel Aviv oder bauten Straßen. Das war ihr Weg zu den selbst gesteckten Zielen – nämlich das Reich Gottes früher zu erreichen und eine bessere Welt für die Nachkommen zu schaffen.

Danach strebte auch Carl-Heiner Schmids Urgroßvater Hugo Wieland. Der lässt sich 1869 in Jerusalem nieder und gründet einen Bauhandel. Wie nahezu alle Auswanderer schickt auch er seine Söhne zur Ausbildung wieder zurück nach Württemberg. So kommen die Württemberger Carl und Rudolf Wieland um 1900 herum als „syrische Lehrlinge“ ins Bruderhaus nach Reutlingen. Sie sprechen schwäbisch, aber auch arabisch. Syrer werden sie genannt, weil zu der Zeit praktisch der gesamte Nahe Osten als Syrien firmiert.

Carl Wieland gründet die erste Zementfabrik des Orients

Carl geht nach der Ausbildung in Reutlingen als Praktikant zur Firma Rehfuß nach Ulm, die Zementsteinplatten herstellt, erzählt Jakob Eisler. Zurück in Palästina gründet Carl Wieland, der Württemberger, die erste Zementfabrik des Orients. Er gießt Bodenplatten und Balustraden. Selbst der Zement kommt aus Heidelberg. Das Material für die Gehsteige von Tel Aviv wird über Neckar und Rhein, durch Nordsee, Atlantik und das Mittelmeer nach Jaffa geschippert, erzählt Eisler.

Die Württemberger im Heiligen Land haben ihre Spuren hinterlassen. Eisler nennt Gottlieb Schuhmacher, dessen Vater aus Tübingen stammte und der in Stuttgart zum Bauingenieur ausgebildet wurde, als einen der Verantwortlichen für den Bau der Bagdadbahn. Auch Wieland ist am Projekt Bagdadbahn beteiligt. So kommt es, dass seine Tochter, die Mutter von Carl-Heiner Schmid, in Aleppo geboren wird.

Der Missionar Johann Ludwig Schneller, ein Lehrer von der Schwäbischen Alb, gründete 1860 das syrische Waisenhaus in Jerusalem, die, wie Jakob Eisler sagt, „größte Erziehungsanstalt des Orients.“ An die ursprüngliche Schule wurden schnell Handwerksbetriebe angegliedert. Die Bäckerei Schrade aus Möhringen schickte Eisler zufolge Backformen nach Jerusalem. Auch das Know How kam aus Württemberg und wurde über die Generationen tradiert. Die Templer mussten 1939 das Heilige Land verlassen. Geblieben ist zum Beispiel das Brezelrezept: „Die Bäckerei des Waisenhauses Beirut produziert bis heute württembergische Brezeln für den Libanon“, berichtet Jakob Eisler. Auch den Nachlass des syrischen Waisenhauses hütet das evangelische landeskirchliche Archiv. In den Kellern in Stuttgart lagern sicher verwahrt etwa 20 000 Fotografien aus dem Heiligen Land, Bilder aus den Jahren von 1865 bis 1935 – „die zweitgrößte Sammlung an Bildern aus dem Orient“, wie Eisler sagt. Sollte es eines Tages in Städten wie Aleppo ans Restaurieren gehen, könnten die Stuttgarter die historischen Vorlagen liefern.

Der Enkel des Auswanderers möchte den Kreis schließen

Vor dem zweiten Weltkrieg kehrte auch die Familie von Carl-Heiner Schmid zurück nach Württemberg. In Reutlingen fing sein Vater ein Malergeschäft an. Der Sohn Carl-Heiner, inzwischen selbst Seniorgesellschafter der Firma Heinrich Schmid, erinnert sich mit einer gewissen „Lebensdankbarkeit“ an seine Vorfahren im Heiligen Land. Auch wenn er selbst kein Mitglied der Tempelgesellschaft ist, im Beirat der Bruderhaus-Diakonie sitzt er doch.

Und Carl-Heiner Schmid ist entschlossen, den Kreis der syrischen Lehrlinge zu schließen. „Wir werden das machen“, die Firma werde junge syrische Flüchtlinge ausbilden. Man stehe schon im Kontakt mit der Bruderhaus-Diakonie in Reutlingen und mit der Volkshochschule. Kamen Großvater und Großonkel noch mit Arabisch und Schwäbisch durch, wird es jetzt für die syrischen Lehrlinge ohne gute hochdeutsche Sprachkenntnisse nicht gehen. „Die Sprache ist das Wichtigste, dann kann die Lehre folgen“, sagt Schmid.