Es ist 21.30 Uhr am Samstagabend, als es erstmals richtig laut wird. Als geklatscht, gejubelt und freudig gestikuliert wird. Von all jenen, die in ihren grünen Outfits gekommen sind, um im O’Reilly’s Irish Pub ihr Team anzufeuern. Irlands Rugby-Nationalmannschaft, die Men in Green, spielen gegen die All Blacks aus Neuseeland. Grün gegen Schwarz in Paris, der französischen Hauptstadt – und so ein bisschen auch im Stuttgarter Westen.
Um 21.30 Uhr am Samstagabend also gelingen den Iren die ersten Punkte in diesem Viertelfinale der Weltmeisterschaft. Was folgt, ist der Rest dieses „Monsterspiels“, wie es der neuseeländische Trainer Ian Foster später beschreiben wird. Eine Partie, die auch als Halbfinale oder gar Endspiel hätte durchgehen können – und die so unglaublich viele Menschen in ihren Bann zieht.
50 000 irische Rugbyfans, so heißt es, hatten sich Karten für das Spiel im Stade de France gesichert, noch einmal 500 000, so heißt es, seien in der französischen Hauptstadt unterwegs gewesen. Und in Irland selbst? „Da sind die Straßen leer und die Pubs voll“, sagt Cillian O’Reilly, der den Stuttgarter Pub seit neun Jahren betreibt. Die großen Rugbyturniere – alle vier Jahre findet die WM, jedes Jahr das europäische Six-Nations-Turnier statt – sind auch für ihn und seine Kneipe jeweils Festtage, „ganz besondere Wochen“, wie er sagt. Weil in Irland der Rugbysport einen Stellenwert hat, der den des Fußballs fast noch übersteigt.
Fast 200 Menschen drängen sich bei den großen Spielen in O’Reillys Pub. Das ist viel, die Zahlen, die die WM in Frankreich bisher produziert hat, sind aber noch viel größer.
Schon bis vor den Viertelfinals am vergangenen Wochenende haben bei den 40 Spielen der Gruppenphase 164,5 Millionen Menschen am TV-Gerät zugesehen – allein in Frankreich. Eine Million Zuschauer waren in den Stadien dabei. Das Shirt der französischen Nationalmannschaft verkaufte sich rund 250 000-mal. Rugby begeistert immer mehr Menschen. Weltweit.
In Europa ist der Sport nicht allein auf der britischen Insel populär, sondern vor allem in Frankreich, dem Gastgeberland dieser WM. Zu den neun europäischen Teams (England, Irland, Schottland, Wales, Frankreich, Italien, Georgien, Portugal, Rumänien) gesellten sich zunächst drei Mannschaften aus Südamerika (Argentinien, Chile, Uruguay), zwei vom afrikanischen Kontinent (Südafrika, Namibia), Japan als asiatischer Vertreter, dazu Australien und die Nationen Ozeaniens (Neuseeland, Fidschi, Tonga, Samoa).
Carlos Soteras Merz nennt Rugby eine „Lebensschule“
Die Tradition der Sportart ist riesig (1845 wurden erstmals Regeln niedergeschrieben), die Faszination auch. Was macht diese aus?
„Rugby“, sagt Carlos Soteras Merz, „ist der ultimative Teamsport. Für jede Körperlichkeit gibt es eine Position, jeder findet seinen Platz.“ Der 32-Jährige ist Nationalspieler, stand für Deutschland bereits im 15er-Rugby (das auch bei der WM gespielt wird) sowie in der olympischen 7er-Variante auf dem Feld. Er betont: „Als Rugbyspieler braucht mal eine gute Physis – aber ebenso Technik und Taktik.“ Zudem gelte ein Grundsatz des Mannschaftssport hier ganz besonders: „Nur als Team kann man erfolgreich sein.“
Wer Rugby auf Spitzenniveau zum ersten Mal sieht, könnte meinen, es regiere nur brachiale Wucht. Die Spieler sind groß, sie sind schwer, viele muskelbepackt – und wenn sie ineinanderrauschen sind sorgenvolle Blicke alles andere als unbegründet. „15er-Rugby auf Toplevel“, sagt Carlos Soteras Merz, „ist wie ein Autounfall. Danach braucht man erst einmal ein paar Tage Erholung.“ Bei der WM, die dieses Toplevel repräsentiert, treten die Teams lediglich einmal pro Woche an. Und doch steckt viel mehr im Rugbysport als schiere Kraftmeierei.
Das Regelwerk ist umfangreich und für Laien nicht leicht zu durchschauen. Es gibt – unter anderem – das Gedränge (eine Standardsituation), die Gasse (ein Einwurf als Standardsituation) oder den Versuch (das Ablegen des Balles im gegnerischen Malfeld). Es wird gekickt, geworfen, gesprintet – und vor allem gerangelt, geschoben und hart getackelt. „Rugby ist Lebensschule“, sagt Soteras Merz, der in Stuttgart lebt und arbeitet – und dessen Vater Nationalspieler Chiles war. Er konkretisiert: „Man fällt hin, steht wieder auf. Man powert sich körperlich aus, muss aber auch ständig nachdenken. Und: Man muss sich in harten Spielsituationen opfern, damit das Team erfolgreich sein kann.“
Wofür Rugby noch steht: für Respekt – und Transparenz.
Respekt, weil selbst nach den härtesten Auseinandersetzungen die Teams beieinandersitzen. Weil kulturelle Riten (wie der Haka der Neuseeländer oder der Cibi der Fidschianer) akzeptiert sind. Und weil die Entscheidungen der Schiedsrichter nicht diskutiert werden, nur die Kapitäne dürfen mit dem Referee sprechen. Transparent sind dessen Entscheidungen, weil jeder im Stadion hören kann, wie er sie begründet. Und weil der Videobeweises auf der Leinwand übertragen wird. Rugby also kann mit vielem punkten, fristet aber in Deutschland, wo viele Fußballvereine Wurzeln im Rugby haben, ein Schattendasein. Warum eigentlich?
In Deutschland fehlt die Aufmerksamkeit
„Es fehlen die Erfolge, um Aufmerksamkeit und Medienpräsenz zu generieren“, sagt Carlos Soteras Merz, der für die RG Heidelberg spielt. Für die Erfolge wiederum fehlen die Strukturen. Zwar gibt es an einzelnen Standorten eine positive Entwicklung, insgesamt „fehlt es der deutschen Bundesliga im internationalen Vergleich aber an Qualität“, sagt der Nationalspieler, „zudem gibt es keinen großen Unterbau.“
Zum elitären und geschlossenen europäischen Kreis der Six Nations (England, Irland, Frankreich, Wales, Schottland, Italien) gehört Deutschland nicht, das 15er-Nationalteam agiert in der Klasse darunter. Bei Olympia war das damalige Deutsche Kaiserreich nur im Jahr 1900 dabei. Und für die WM im heutigen Format, die es seit 1987 gibt, war Deutschland noch nie qualifiziert. Vor dem Turnier 2019 aber immerhin einmal nah dran.
Danach, sagt Carlos Soteras Merz, gab es einen Bruch bei den Nationalteams der Männer, momentan laufe der Neuaufbau, der die Auswahlmannschaften nachhaltig nach vorne bringen soll. Ob eine WM-Teilnahme in der Zukunft realistisch ist? Womöglich, wenn das Teilnehmerfeld von 20 auf 24 Mannschaften aufgestockt wird – was derzeit diskutiert wird.
Im Pub in Stuttgart wurde in den vergangenen Wochen also kein deutsches Team angefeuert. Gut was los war dennoch stets bei den Übertragungen. „Iren, Engländer, auch viele Franzosen kommen zum Rugbyschauen“, sagt Cillian O’Reilly. Zudem schauen die Jungs vom Stuttgarter Rugbyclub (der Pub ist Sponsor) immer wieder rein. Am Samstagabend sieht man zudem Gäste im Trikot Argentiniens, Georgiens und Neuseelands.
Dominant aber ist die Farbe Grün. Und es wird auch wieder und wieder laut. 24 Punkte sammeln die Iren. Kurz vor elf allerdings herrscht Stille. Kopfschütteln, in Handflächen vergrabene Gesichter, leere Blicke. 24:28 – die All Blacks haben über die Men in Green triumphiert, der irische Viertelfinalfluch wurde trotz 20 Minuten in Überzahl, dem Status des Weltranglistenersten und zuvor 17 Partien ohne Niederlage nicht besiegt. „Sport kann manchmal grausam sein“, sagt Irlands Coach Andy Farrell. Wenn am Freitag und Samstag die Halbfinals und am 28. Oktober das Endspiel ausgetragen werden, ist Irland – wie immer seit 1987 – nicht dabei. Im O’Reilly’s wird dennoch Rugby gefeiert werden. Wie immer, wenn WM ist.