Der mutmaßliche Missbrauchsskandal im baden-württembergischen Boxen wirft die Frage auf: Welche Schutz- und Präventionskonzepte gegen sexualisierte Gewalt gibt es im Sport?
Stuttgart - Jetzt ist die Maschinerie also angelaufen. Die Staatsanwaltschaft Heidelberg hat die Ermittlungen aufgenommen und untersucht die Vorwürfe gegen drei Boxtrainer aus Baden-Württemberg, die junge, teilweise minderjährige Athletinnen sexuell genötigt und schwer missbraucht haben sollen. Die Verbände sind aufgeschreckt und suchen nach den Fehlern im System. Und entsetzt reagiert die Öffentlichkeit und fragt sich ein weiteres Mal: Wie konnte es so weit kommen?
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Der mutmaßliche Missbrauchsskandal im baden-württembergischen Boxen, über den unsere Zeitung vergangene Woche exklusiv berichtete, hat wieder das Thema sexualisierte Gewalt im Sport in den Blickpunkt gerückt. Es mag ein besonders schwerer Fall sein – ein Einzelfall aber ist er keineswegs. Das weiß man spätestens seit der Studie „Safe Sport“, die Ende 2016 erschütternde Zahlen geliefert hatte: Demnach ist im Leistungssport jeder dritte Athlet schon einmal Opfer von sexualisierter Gewalt geworden, die vom anzüglichen Spruch übers Grapschen bis hin zu schwerem körperlichem Missbrauch reicht.
Niedrigere Hemmschwelle?
Die von der Universität Ulm und der Sporthochschule Köln durchgeführten Studie, die erste überhaupt zu diesem Thema, bildete den späten Anstoß, diese Abgründe des Sports auszuleuchten und konkrete Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Ein Klaps auf den Po, ein sexistischer Witz, das hatte zuvor häufig zum Alltag gehört; über zudringliche Trainer oder Betreuer hatten sich viele junge Athletinnen und Athleten nicht zu beschweren gewagt.
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Das habe sich geändert, „die Hemmschwelle, sich zu offenbaren, ist deutlich niedriger geworden“, sagt Simone König. Die gelernte Lehrerin ist seit 2010 Internatsleiterin am Olympiastützpunkt Stuttgart und war von Beginn an in den Prozess eingebunden, gegen sexualisierte Gewalt vorzugehen. An allen Stützpunkten in Deutschland gibt es mittlerweile Vertrauenspersonen und Ansprechpartner, Schutz- und Präventionskonzepte, Ehren- und Verhaltenskodexe, Sensibilisierungsseminare für alle Mitarbeiter, die (ebenso wie die Trainer in den Sportvereinen) erweiterte polizeiliche Führungszeugnisse vorlegen müssen.
2019 koppelten zudem das Bundesinnenministerium und der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) die Bewilligung von Fördergeldern an die Eigenerklärungen der Verbände, sexualisierte Gewalt bekämpfen zu wollen. Bis Mai 2021 solle dieses Bekenntnis in den Satzungen „einen Leitbildcharakter“ haben, wie Staatssekretär Markus Kerber zuletzt in der „Sportschau“ ankündigte: Der Kampf gegen sexualisierte Gewalt müsse „im organisierten Sport auf allen Ebenen stattfinden, ansonsten können wir eine Förderung nicht aufrechterhalten“. Schon jetzt aber merke man, „dass die Verbände diese Aufgabe ernster nehmen als in den vergangenen Jahren“.
Hohe Dunkelziffer
Doch zeigen nicht nur die nun im Boxsport erhobenen Vorwürfe, dass auch alle Eigenerklärungen und gut gemeinten Konzepte ins Leere laufen können. Wenige Wochen vor Bekanntwerden des mutmaßlichen Skandals sah sich die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zur Forderung veranlasst, Missbrauchsfälle in den Sportverbänden noch genauer zu untersuchen. Im Breiten- und Leistungssport sei der Umgang mit diesem Thema immer noch weitgehend ein Tabu, sagte die Kommissionsvorsitzende Sabine Andresen, Übergriffe würden vertuscht, Täter geschützt. Nach den Recherchen unserer Zeitung soll genau dies auch im Fall der Verdächtigten im baden-württembergischen Box-Fall passiert sein.
Während der organisierte Sport selbst bislang keine eigene Aufarbeitung früherer Fälle angestoßen hat, ruft die Kommission seit Mai 2019 Betroffene dazu auf, sich zu melden. Mehr als 100 Sportler und vor allem Sportlerinnen haben davon bislang Gebrauch gemacht. Experten gehen von einer sehr hohen Dunkelziffer aus, denn: Groß sei in vielen Fällen noch immer das Abhängigkeitsverhältnis, zementiert die Hierarchien, ausgeprägt die Sorgen der Opfer, die eigene Karriere könne Schaden nehmen.
Die baden-württembergischen Boxerinnen wollten darauf keine Rücksicht mehr nehmen und haben mit ihren Anzeigen gegen ihre Trainer den wohl größten Schritt hinter sich. Ob sie ihren Sport in Zukunft wieder unbeschwert ausüben können, ist allerdings ungewiss. Vertraute berichten davon, die jungen Frauen seien teilweise schwer traumatisiert.