Selfies in den sozialen Medien sind die Mund-zu-Mund-Propaganda von heute. Im dritten Stuttgarter Christmas Garden zücken fast alle Besucher ihr Handy. Unser Autor ist begeistert von dem, was er auf dem zwei Kilometer langen Rundweg erlebt hat.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier – so überschaubar mag früher die christliche Hoffnung in der dunklen Jahreszeit gewesen sein. Und wie viele Lichter sind es heute, die in der Wilhelma brennen, bis das Christkind vor der Tür steht? „Es dürften eine Million LED-Lichter sein“, schätzt Christian Doll, der Veranstalter des dritten Christmas Garden. Keiner kann sie zählen.

 

Trotzdem werde weniger Strom verbraucht als beim Start im Jahr 2018, sagt er, weil die neue Technologie immer mehr Energie einspare. Gegen die Winterdepression wird Lichttherapie eingesetzt. Sie hilft ganz wunderbar auch gegen den Coronablues.

Beglückt spaziert das Publikum zur Premiere auf einem etwa zwei Kilometer langen Rundweg – fern von den meisten Tiergehegen – an 30 Leuchtstationen vorbei und kommt aus dem Staunen kaum heraus. Viele „Wows“ und „Oohs“ sind zu hören. Am Seerosenteich im Maurischen Garten stehen besonders viele Münder offen. Wasserfontänen schießen in die Luft. Sanfte Lichter werden auf sprudelndes Nass projiziert und bauen faszinierende Blumenfantasien auf. Die Musik macht das emotionale Erlebnis perfekt.

Keiner der zehn Christmas Garden in Deutschland ist abgesagt

Der Lichtdesigner Andreas Boehlke aus Berlin ist’s, der sich die Märchenshows ausdenkt. Mittlerweile „bespielt“ er zehn Christmas Garden in Deutschland. Keiner davon fällt (bisher) in dieser Saison wegen Corona aus – anders als vor einem Jahr. Während quer durchs Land über das Öffnen von Weihnachtsmärkten gestritten wird, man in Stuttgart die Regel 2 G plus Test beschlossen hat, scheint die Welt in den opulent illuminierten Zaubergärten noch heil zu sein.

„Dies liegt daran, dass es bei uns kein Menschengedränge gibt“, sagt Christian Doll, der nach Stuttgart auch für die Christmas Garden in Hannover (dort war Eröffnung am Freitag) und auf der Insel Mainau (dort geht’s nächsten Donnerstag los) verantwortlich ist. Pro Abend werden Karten für drei Zeitslots verkauft. In einem Zeitrahmen dürfen bis zu 500 Gäste kommen, was bedeutet, dass gleichzeitig nie mehr als 1500 Personen auf dem großen Gelände unterwegs sind. Alle müssen Maske tragen und Abstand halten. Wer’s vergisst, wird ermahnt.

„Wer nicht an Magie glaubt, wird sie niemals entdecken“

Einer der Höhepunkte der neuen Saison ist die Kathedrale des Lichts, ein 20 Meter langer, von Leuchtdioden erstrahlter Tunnel. Schon am ersten Abend erweist sich dieser Ort als Selfie-Paradies. Die Rechnung der Veranstalter geht auf: Hundertfach machen hier Besucher Fotos von sich und posten diese in den sozialen Medien – das ist die Mund-zu-Mund-Propaganda der neuen Zeit.

Schilder mit Zitaten schmücken den Weg. Darauf steht etwa: „Wer nicht an Magie glaubt, wird sie niemals entdecken“ (Schriftsteller Roald Dahl) oder: „Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche“ (Theologe Dietrich Bonhoeffer). Sind die Leuchtsinfonien klasse oder kitschig? Im besten Fall beides zugleich! An Weihnachten sind große Gefühle erlaubt. „Gerade in der Pandemie, wo so viel ausgefallen ist, erlebt man alles Schöne noch viel intensiver“, sagt Patrick Mikolaj vom Unnützen Stuttgartwissen. Sänger Almklausi ist bekannt für laute Töne am Ballermann. Jetzt sitzt er nach dem Rundgang verträumt im Sessel des Restaurants Amazonica. „In Dubai hätt’ mich diese Opulenz der Lichter nicht überrascht“, sagt er, „aber in Stuttgart hab’ ich damit nicht gerechnet.“ Das Unerwartete gefällt ihm umso mehr. Travestie-Lady Frl. Wommy Wonder beobachtet in der ersten Nacht: „Selbst Unromantische bekommen hier romantische Anwandlungen.“ Unterwegs befinden sich zwei Discokugeln. Darunter tanzen bunte Lichter auf dem Boden. „Ich komm’ mir vor wie betrunken“, sagt Wommy.

Die Wilhelma ist eine Millionärin des Lichts

Geht das Glück der Menschen auf Kosten der Tiere? Wilhelma-Chef Thomas Kölpin verneint. Von der Lichtershow seien nur Pelikane und Pinguine betroffen. Und die hätten nix dagegen, wenn was los ist. Bei der Premiere gesellen sich die Pelikane genau an jene Seite ihres Sees, wo der Buzzer zum Lichterstart gedrückt wird. Kölpin ist vom möglichen Besucherandrang mehr betroffen als die meisten seiner Tiere: Der Rundweg führt direkt am Eingang seiner Dienstwohnung vorbei. Bis zum 16. Januar (länger als bisher) darf sich seine Familie darauf einstellen, dass nicht wenige Besucher nachts bei ihnen vorbeiziehen. Es weihnachtet sehr. Die Wilhelma ist eine Millionärin des Lichts und zelebriert die Schönheit des Träumens.

Der Christmas Garden ist täglich von 17 bis 22 Uhr geöffnet. Karten unter 0 18 06 – 77 71 11 und www.christmas-garden.de/stuttgart .