Rosa Gewänder in alten Gemäuern: Der russische Multimillionär Alexander Dragilev hat eine Burg im Jagsttal in einen Ashram verwandelt.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Schwäbisch Hall - Abenddämmer im Jagsttal. Steile Treppen führen weit hinauf von der Altstadt zu einer uralten, scheinbar verlassenen Burganlage. Der Ruf eines Käuzchens verhallt. Das Tor steht offen. Eine schmale Steinbrücke führt über den Burggraben in einen halb verwilderten Garten. Neben einer schweren Holztür eine Tafel mit dem Namen des Burgherrn: Dragilev! So könnte eine Spukgeschichte beginnen, fehlen eigentlich nur eine Fledermaus, die vor Vollmondkulisse in den Turm huscht, dann schattenhaft eine Gestalt hinter dem Fenster. Doch welche Geschichte steckt wirklich in diesen Mauern?

 

Einige Tage später: der Meister betritt den Rittersaal. Er trägt ein rosa Gewand, stabile Ringe als Ohrschmuck, eine Rolex GMT Master II aus 18 Karat Gelbgold mit Keramiklünette und zweiter Zeitzonenanzeige. Die Hände und Füße des 49-Jährigen sind so zart wie die eines Jungen. Er nimmt auf einem Louis-Seize-Sofa Platz, reibt sich lange die Schläfen. Sieben Frauen und zwei Männer im Alter von 35 bis 60 sind gekommen, um ihn vom Glück erzählen zu hören. Er spricht sehr leise. Vorerst kann er aber nur sagen, dass er vergessen habe, was er sagen wollte.

Alexander Dragilev besucht seine Burg in Möckmühl, die sich auf ihre alten Tage – die Grundmauern stehen seit dem 12. Jahrhundert – noch zu einem Hindutempel mausert. Für seine Anhänger ist er Sripad Bharati Maharaj, eine erleuchtete Majestät. Er ist sehr reich, besitzt ähnlich feudale Häuser – Schlösser, umgebaute Kirchen, alte Schulen – auf der ganzen Welt. Er arbeitet nichts mehr, widmet sich allein der Liebe, der Philosophie und Schönheit. Die Burg ist ein ausgezeichneter Ort dafür.

Eine Maulwurfswelt

Es ist vedische Feierwoche. Ein Höhenwindchen weht in den erhitzten Rittersaal, draußen rascheln die Blätter eines Nussbaums, Kinder spielen auf dem steinernen Steg, wo früher die Zugbrücke war, malen mit Kreide kyrillische Buchstaben auf den Boden. Entlang der alten Wehrmauer flattern bunte Bänder wie Gebetsfahnen im Himalaja. Im Burggraben parken Autos mit schwedischen, lettischen, italienischen, ukrainischen, spanischen, englischen Kennzeichen. Am Bergfried sitzen die Gäste an Gartentischen, entspannt wie Urlauber im Grandhotel, und trinken naturtrüben Apfelsaft. Der Eingang zum Turm mit seiner drei Meter dicken Wand ist eine mittelalterliche Klimaanlage, aus der unaufhörlich Kaltluft strömt. Von hier aus gelangt man zu den Wehrgängen und Kasematten, die das Erdreich durchziehen wie eine Maulwurfswelt. Ohne Lampe herrscht da unten tiefschwarze Nacht, nur die Schießscharten sind kleine Lichtstationen.

Vom Dorf tönt die Kirchenglocke herauf in den Saal. Das Interieur des Schlosses ist vor 20 Jahren fast komplett versteigert worden. Dragilev musste einen Antiquitäten-Großeinkauf machen, um das Ganze neu einzurichten. Jetzt zieren die 40 Zimmer beeindruckende Standuhren, schwere Möbel, Teppiche, Stillleben und Porträts in Öl, die nur wenig mit der Burg zu tun haben – außer, dass auch sie alt sind. Auf einem Stich mit dem Konterfei Kaiser Wilhelms ist zu lesen: „Noch nie ward Deutschland bezwungen, wenn es einig war.“

Alexander Dragilev hat den Faden wiedergefunden: „Happiness is harmony“, sagt er. „Glück ist Harmonie“, übersetzt die Dolmetscherin. „Jeder sucht nach dem Glück, jeder für sich. Der Mensch ist nur ein Tröpfchen im großen Ozean. Doch er kann die Welle des Urstroms finden und in vollkommener Harmonie mit ihr gleiten. Das ist Glück.“ Wer auf dieser Urwoge surfen will, darf sich natürlich an nichts mehr festhalten. „Das Hauptmerkmal des Göttlichen ist seine Anziehungskraft“, sagt Dragilev. „Würde jetzt eine schöne Frau in diesen Raum treten, blieben alle Blicke und alle Aufmerksamkeit nur auf sie gerichtet. So ist auch Gott. Er will, dass man ihn ansieht, von ihm berührt wird und sich ganz hingibt.“

Fernöstliche Spiritualität als Protestform

Zur Woche der Begegnung sind neben Dragilev zwei weitere Majestäten aus England und den USA mit ihren Schülern und deren aufgeweckten Kindern nach Möckmühl angereist. 70 Leute bewohnen die Burg als eine Art Krishna-WG. Die Tage beginnen morgens um sechs mit Gesängen, man meditiert und trommelt viel, macht Yoga, bereitet vegane Speisen zu, hört philosophische Reden. Jeder ist willkommen. Nur Gewalt, Tiere im Kochtopf und bewusstseinstrübende Mittel sind tabu.

Dragilev ist nur kurze Zeit an einem Ort. Danach fliegt er zu seinem Meditationszentrum in Thailand. Er hat die Burg Möckmühl gekauft und seinen Leuten gesagt: „Macht was draus.“ Noch gibt es im Südwesten nicht viel Inspirierte, die ihm folgen – etwa zwölf aus Heilbronn, Stuttgart, vom Bodensee. Keiner aus Möckmühl.

Schon als Kind sei er ein Suchender gewesen, sagt Dragilev. Mit 14 faszinierte ihn Hesses „Glasperlenspiel“, mit 15 entdeckte er fernöstliche Spiritualität – auch als eine Protestform. Mit 16 besuchte er den Dissidenten Sacharow zu Hause, schenkte ihm das Buch „Bhagavad-Gita“ – „Das Lied der höchsten Seele2. Daraufhin sei er ohne Begründung eine Woche ins Gefängnis gesperrt worden: „Ich hasse den Kommunismus in all seinen Erscheinungsformen.“

Der Kern des Selbst

Während draußen das Sowjetreich zusammenbrach, lebte Dragilev im Kloster. Als er rauskam, traf er auf ein Russland der unbegrenzten Möglichkeiten – für Leute, die skrupellos oder clever genug waren. Über undurchsichtige Kanäle verschaffte er sich Zugang zu Diamantenstaub, verkaufte ihn nach Antwerpen und machte damit 200 000 Dollar jeden Monat, die er stets bei seiner Mutter ablieferte. „Ich wusste gar nicht, wie viel Geld das ist, und ich dachte, jeder macht solche Geschäfte.“

Seine Millionen investierte er in einen Verlag für esoterische Schriften und Immobilien, die sein Vermögen weiter vervielfachten. Er heiratete, bekam zwei Kinder, die jetzt studieren. Und streifte die Wirklichkeit mit ihrem wertlosen Wissen immer weiter ab wie eine alte Haut. Ging in Versenkung, suchte nach dem Atman, dem Kern des Selbst. Nur Erwählte durchstoßen den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt, werden eins mit der großen Weltseele, so wie ein Fluss ins Meer mündet, dabei Namen und Gestalt verliert. Er ist der Wahrheit näher gekommen, „aber auch in mir wechseln Glück und Unglück wie Jahreszeiten“. Um seine Häuser kümmern sich heute Helfer, die alles am Laufen halten. „Noch ist Geld da. Wenn es weg ist, macht das nichts.“

Dragilev hat Ashrams in Israel, wo seine Familie herkommt, in Russland, wo er geboren wurde, und nun auch in Deutschland, das er seit jeher für seine Denker bewundert. Er hat viel von Hegel, Kant, Schopenhauer gelesen. Und wo findet sich eine engere Verbindung zur vedischen Philosophie als bei den deutschen Frühromantikern, die mit ihrer Indienliebe im Wandersäckel zu neuen Ufern aufbrachen? Ein Jahr bereiste er Deutschland, bis er Möckmühl fand.

Dichtung, Konzerte, Heilkurse

Seitdem sieht man mitunter apricotfarben gewandete Krishnamönche durch die Altstadt tanzen oder still ihre Einkäufe erledigen. Das Burggelände steht offen für alle, die es sich anschauen möchten, nur sollten sie die Privatsphäre respektieren und nicht an der Tür klingeln. Künftig gibt es hier dichterische Führungen, klassische Konzerte, ayurvedische Heilkurse. Einmal hat sich Dragilev auch kurz im örtlichen Rathaus vorgestellt. So richtig nahe gekommen ist man sich nicht. Die Stadtarchivarin fragte ihn, ob er denn noch mehr über die Historie erfahren wolle? Er wollte nicht.

Die Burg ist im Fünfeck auf schmalem Felsrücken erbaut und von einer Ringmauer umschlossen. Angelegt wurde sie unter den edelfreien Herren von Dürn. Der Dichter Wolfram von Eschenbach, der ihnen nahestand, verfasste hier den „Parzival“ – und stand vor 800 Jahren im gleichen Kellergewölbe, das sich jetzt ausrangierte Uhrengewichte, die aussehen wie Weltkriegsbomben, klobige Stereoanlagen aus den Siebzigern und ein Polizei-Bobbycar teilen.

1453 fiel die Burg an das Haus Württemberg. 1519 trotzte Götz von Berlichingen hier der Belagerung durch Truppen des Schwäbischen Bunds, bis der letzte Mehlsack aufgeschnürt, das letzte Weinfass geleert und das letzte Blei aus Fenstern gebrochen war, mit dem die Geschütze gefüttert wurden. Bei seinem nächtlichen Ausfallversuch kam es zum Gefecht mit schweren Verlusten, der Mann mit der Eisenfaust wurde gefangen genommen.

Was ist böse?

1828 ging die Burg an die Stadt Möckmühl, wurde zum Armenhaus, später zur Bierbrauerei mit Kegelbahn. 1901 erwarb Gustav von Alvensleben, General der Kavallerie und Gemahl einer Freiin von Berlichingen, die Anlage, baute sie zum Schloss um. Seitdem ist sie in privater Hand. Dragilev kaufte sie einem Kieferchirurgen ab. Der Preis: siebenstellig.

Eine Zuhörerin im Rittersaal fragt: „Wie können wir glücklich sein in so einer hässlichen Welt?“ Der Meister aus Russland zwirbelt an seinem grauen Vollbart. Die erleuchtete Majestät aus Amerika antwortet für ihn. Der Mann trägt sein dünnes Haar vorne kurz, hinten lang und spricht in einer Lautstärke, wie man sie eher von einem Ausbilder der US-Marines erwartet: „Der Atman ist oftmals im Schlafzustand. Wer aber einen Albtraum durchlebt, sollte besser aufwachen, anstatt sich den Traum angenehmer zu gestalten.“

„Wir müssen alle überleben in der Welt, aber wir dürfen dabei nicht vergessen, für das eigene Selbst und das große Ganze da zu sein“, sagt Dragilev. „Wenn wir einen Menschen sehen, der hingerichtet wird, fühlen wir mit ihm und denken, sein Henker ist böse. Wenn wir dann erfahren, dass der Hingerichtete ein Kind getötet hat, wechseln wir die Perspektive und halten den Mann für böse. Aber vielleicht hat das Kind ja in einem früheren Leben ihn getötet.“

Was ist böse? „Satan ist alles, was einen von der Wahrheit abbringt. Satan kann die Idee eines Vaterlands sein, Satan kann die Ehefrau sein, Satan ist, wer uns Wurzeln schlagen lässt.“ – „Und die Wissenschaft?“, fragt ein Zuhörer. „Wissenschaftler sind die subtilsten und gefährlichsten Botschafter des Satans.“ Außer Max Planck, der die Physik zum Bewusstsein geführt habe. „Wenn man als Kind etwas Schlimmes getan hat, kann man das wiedergutmachen?“, fragt eine Zuhörerin. „Man kann nur weinen, ändern kann man nichts.“