In den Kooperationsklassen der Theodor-Heuss-Schule arbeiten die Kinder mit Gleichaltrigen zusammen, die eine geistige Behinderung oder eine Lernschwäche haben. Davon profitieren letztlich beide Seiten – das zeigt ein Besuch vor Ort.

Rutesheim -

 

Schwein oder Bein, das ist hier die Frage. Nö, das laute Grunzen als kleine Hilfestellung kann sich der Mitschüler von gegenüber sparen. Maike setzt das Kreuzchen an der richtigen Stelle. Mit der bunten Rechenkette tut sich die Zehnjährige indes etwas schwerer. 13 plus 6? Tim streckt ihr die Finger entgegen. Maike geht kurz in sich und markiert dann mit winzigen Wäscheklammern das richtige Ergebnis auf dem Arbeitsblatt. Der Rest ist aber kein Problem. „Check!“, sagt Tim und fährt seine rechte Hand aus. Maike grinst und klatscht routiniert ab.

Es ist eine Szene, wie sie in einer Grundschule normaler nicht sein könnte. Und doch ist morgens um halb neun in der 4c der Rutesheimer Theodor-Heuss-Schule etwas anders. Denn Maike ist ein „Downie“, wie man sie hier liebevoll nennt. Sie kam mit dem Down-Syndrom zur Welt, doch die Schulbank teilt sie sich mit Kindern ohne Handicap. Das ist nämlich das Prinzip der Kooperationsklasse an der Grund- und Werkrealschule. Hier lernen Schüler gemeinsam mit Gleichaltrigen, die eine geistige Behinderung oder Lernschwäche haben.

Fünf Kinder mit Handicap in der Kooperationsklasse

Neben Maike besuchen vier andere Kinder aus der Leonberger Karl-Georg-Haldenwang-Schule die Inklusionsklasse. Die meisten kennen sich bereits seit der Einschulung. „Es soll so viel wie möglich gemeinsam unterrichtet werden“, erklärt die Klassenlehrerin Monika Cichos. „Doch je weiter die Regelschüler in ihrem Wissen sind, umso mehr müssen wir den Unterricht differenzieren.“ Das bedeutet: Es gibt leichte und schwierige Aufgaben zum selben Inhalt, die nach einem individuell zugeschnittenen Wochenprogramm gemeinsam bearbeitet werden. Für einen Teil der Haldenwang-Schüler wird aber auch getrennter Deutsch- und Mathematikunterricht angeboten.

Die Kooperationsklasse wird immer mindestens von zwei Lehrkräften geleitet, eine davon kommt von der Haldenwang-Schule. Diesen Part füllt Dorothee Dietterle bei den Neunern der Werkrealschule aus – sie ist neben der Grundschulklasse die zweite Kooperationsklasse in Rutesheim. Dass die Sonderschüler ihre Kameraden bremsen, davon will sie nichts hören und verweist auf die gute personelle Besetzung, die hervorragenden räumlichen Möglichkeiten und die angemessenen Schülerzahlen. „Das Tolle ist aber auch, dass die Schüler nicht nur von den Lehrern lernen, sondern auch von ihren Mitschülern“, berichtet die Pädagogin.

Klar, es gebe noch immer Eltern und Schüler, die einer Kooperationsklasse mit Skepsis begegneten. „Doch zuletzt war das Interesse so groß, dass wir weitaus mehr Regelschüler hätten aufnehmen können, als es pädagogisch sinnvoll wäre“, berichtet die Rektorin Friederike Bailer und unterstreicht die „hohe Akzeptanz“. Das liege nicht zuletzt daran, dass eine Teilnahme an der Inklusionsklasse immer freiwillig sei. „Die Eltern entscheiden selbst, ob ihr Kind in die Klasse kommt und auch bei den Lehrern besteht das Prinzip der Freiwilligkeit“, sagt sie.

Maike ist ein Mathe-Ass und eine Stimmungskanone

Dass die Kinder die Inklusion als selbstverständlich hinnehmen, ist nicht nur ein Lippenbekenntnis der Rektorin. Bei der Frage, ob es in ihrer Klasse eine Besonderheit gibt, muss Liv zunächst lange überlegen, bis sie dann am Ende aber doch mit einem klaren „Nein“” antwortet. „Ohne Maike kann ich es mir gar nicht vorstellen“, sagt die Sitznachbarin. Denn Maike ist nicht nur ein Mathe-Ass, sondern auch eine Stimmungskanone. Eine liebevolle Umarmung oder einen dicken Schmatzer gibt es obendrein dazu – in der Kooperationsklasse, das muss man wissen, geht es sehr herzlich zu. Nicht selten entstehen auch richtige Freundschaften, die weit über den Schulunterricht hinausgehen. Negative Reaktionen auf Maike oder die anderen Haldenwang-Schüler gebe es zwar gelegentlich. „Aber die kommen von außen“, erzählt Liv, die jene eines Besseren belehrt.

Beim Konzept der Kooperationsklasse, die es an der Theodor-Heuss-Schule seit 2007 gibt, spricht Rektorin Bailer von einer „Win-win-Situation: Beide Seiten profitieren davon“, sagt sie. Ihr zufolge sind die Sonderschüler deutlich selbstbewusster als jene, die keine Kooperationsklasse besuchen. „Und die Regelschüler entwickeln eine sehr positive Sozialkompetenz“, berichtet sie. Die Pädagogin spricht dabei vom „Lernen fürs Leben“. „Wir haben auch Schüler, die trotz körperlicher Einschränkung ihren Weg gehen“, sagt sie. „Das nehmen die anderen wiederum als Ansporn.“

Eine Schule kämpft ums Überleben

Am Mittwoch und Donnerstag läuft die Anmeldung für die fünfte Klasse. Die Rektorin hofft auf genügend neue Schüler.

Rutesheim - Im Schnitt besuchen die Theodor-Heuss-Schule 23 Kinder und Jugendliche pro Jahrgangsstufe. „Für uns ist das ein deutliches Signal, dass die Werkrealschule noch gebraucht wird“, sagt die Rektorin Friederike Bailer. Die reinen Anmeldezahlen zu Beginn eines jeden Schuljahres seien nur ein Teil der Wahrheit. „Wir haben im Laufe des Schuljahres einen erheblichen Zulauf, etwa von der Realschule, aber auch an Flüchtlingskindern“, erklärt Bailer. So sei es stets möglich gewesen, eigenständige fünfte und sechste Klassen einzurichten und diese nicht zusammen unterrichten zu müssen. Derzeit besuchen 28 Kinder die fünfte oder sechste Stufe, genug, um getrennte Klassen zu bilden. „Deshalb haben wir vom Staatlichen Schulamt Böblingen auch die Erlaubnis erhalten, wie bisher weiterzumachen“, fährt die Schulleiterin fort. Im Gegensatz etwa zur Schellingschule in Leonberg, die in Klasse fünf keine neuen Schüler mehr aufnehmen darf.

Bailer, die seit 15 Jahren an der Schule und seit zehn Jahren deren Leiterin ist, und ihr Lehrerkollegium kämpfen um das Überleben des Werkrealschulzweigs an ihrer Bildungseinrichtung. „Die Kollegen sind hoch motiviert. Wir können ein qualifiziertes und differenziertes Lernangebot machen“, sagt sie mit Blick auf die Anmeldung für die neuen fünften Klassen, die heute und morgen stattfindet.

Die Theodor-Heuss-Schule feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Da schmerzt der Abgesang auf die Werkrealschule, der vielerorts angestimmt wird, besonders. Auch die Konkurrenz durch die Gemeinschaftsschule. Seit die Grundschulempfehlung nicht mehr verbindlich ist, steht es Eltern frei, auf welche Schulform sie ihren Nachwuchs schicken. Ob das auch immer das Beste für das Kind ist, bezweifeln einige Pädagogen. „Wir haben einen besonders großen Zulauf aus der Realschule. Das zeigt uns, dass es die Werkrealschule noch braucht“, betont Bailer.

Ulrike Otto