Bauern dürfen Saatgut für Gemüse herstellen und verkaufen, auch wenn es nicht zugelassen ist. Das hat der Europäische Gerichtshof entschieden. Das Urteil ruft unterschiedliche Reaktionen hervor.

Stuttgart - Es hat nicht nur geregnet, es hat wieder einmal geschüttet wie so oft in diesem Sommer. Der Weizen beugt sich diesem Wasserdruck von oben und liegt am Boden. Der Dinkel auf den Versuchsfeldern der Universität Hohenheim hingegen steht aufrecht. „Die starken Gewitter der vergangenen Nacht zeigen einen der Vorteile der neuen Dinkelsorten sehr eindrücklich: die Standfestigkeit“, erklärt Friedrich Longin von der Landessaatzuchtanstalt an der Uni Hohenheim seinen Besuchern. Und auch der Emmer stehe wie eine Eins. Der Wissenschaftler hat kürzlich Landwirte, Bäcker, Müller und Vertreter von Handel und Industrie eingeladen, um die Forschungsarbeiten an diesen und anderen neuen Sorten vorzustellen.

 

Diese neuen Sorten sind eigentlich uralt, waren aber längst vergessen und nahezu ausgestorben. Emmer, Einkorn und Dinkel standen täglich auf dem Speiseplan unserer frühen Vorfahren. Doch schon während der Bronzezeit setzten sich ertragreichere Arten durch, die zudem leichter zu ernten und zu verarbeiten waren. Als man sich vor etwa zehn Jahren an der Universität Hohenheim für Emmer und Einkorn zu interessieren begann, musste man auf Genbanken zurückgreifen, in denen seit Jahrzehnten die vom Aussterben bedrohten Arten gesammelt werden. Longin beeindruckt jedoch nicht nur das Durchhaltevermögen der Pflanzen. Er setzt auch auf deren innere Werte: Sie sind reich an Mineralstoffen, Vitaminen und Spurenelementen. Außerdem schmecken sie aromatischer als die hochgezüchteten Getreidevarianten.

In Sachen Geschmack sind die meisten alten Sorten ihren neu gezüchteten Varianten überlegen. Ob Kartoffeln, Tomaten, Karotten, Rüben oder Spitzkraut: die alten Pflanzen schmecken von Sorte zu Sorte unterschiedlich, die neuen haben eine Art Einheitsgeschmack. Daher werden diese alten Sorten bei Bauern und Verbrauchern in den vergangenen Jahren immer beliebter. So hat beispielsweise die Bewegung Slow Food vor einiger Zeit eine „Arche des guten Geschmacks“ zusammengestellt. Hier findet man vor allem alte Sorten, „weil sie einfach besser schmecken“. Die Mitglieder dieses Zusammenschlusses essen, was sie retten wollen. Denn die meisten alten Sorten verschwanden vom Markt, weil sie nicht genügend Ertrag brachten, wenig attraktiv aussahen oder schwer zu verarbeiten waren. Dass diese Sorten hingegen widerstandsfähig gegen Umwelt und Schädlinge waren, spielte keine große Rolle.

Alte Sorten züchten

Auch Bauern interessieren sich für alte Sorten, nicht nur um diese zu verkaufen, sondern auch um sie zu züchten. Doch das war bisher nicht legal. Denn eigentlich darf nur Saatgut verwendet und verkauft werden, das in mindestens einem Land der Europäischen Union zugelassen ist. Diese Zulassung ist aufwendig und teuer, daher kann sich eine Einzelperson oder ein kleiner Verband dies nicht leisten. Der Handel mit Saatgut wird von Konzernen wie Monsanto, Syngenta oder Bayer dominiert. Seltene und regionale Sorten verschwinden zunehmend vom Markt.

Nun hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg entschieden, dass Bauern auch alte Gemüsesorten anbauen dürfen, die nicht im Sortenkatalog eingetragen sind (die StZ berichtete). Die Züchter dürfen diese Sorten auch vermarkten, wenn industrielle Saatguthersteller sie nicht mehr anbieten.

Konkret ging es beim Europäischen Gerichtshof um die bäuerliche Initiative Kokopelli in Frankreich, die von einem französischen Saatgutkonzern verklagt worden war. Die Mitglieder des Netzwerkes bauten mehr als 461 Sorten an, die nicht amtlich eingetragen waren. Anstatt die gesamte Ernte zu verkaufen, entnahmen die Bauern einigen Pflanzen die Samen und gaben sie unerlaubterweise an andere weiter. Doch nun entschieden die Richter, dass dies möglich ist. Damit, so steht es in der Begründung, wolle man den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren und dafür sorgen, dass die Produktivität steige, ein reichhaltiges Angebot an Pflanzengenen erhalten bleibe und der Binnenmarkt für Gemüsesaatgut wachse.

Urteil ruft unterschiedliche Reaktionen hervor

Das Urteil ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Nach Ansicht des Umweltverbandes BUND wurde damit der Agrarindustrie mit ihrem Saatgutmonopol ein Strich durch die Rechnung gemacht. Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) spricht von einem Sieg für die Artenvielfalt und geht davon aus, dass viele Sorten nun wieder gehandelt werden dürfen. Damit sei ein Fall wie die Kartoffelsorte „Linda“ nicht mehr möglich. Der „Königin der Kartoffeln“, wie einige Bauern diese Sorte bezeichnen, drohte 2004 das Aus. Der bisherige Saatgutunternehmer hatte damals entschieden, die Knolle vom Markt zu nehmen, obwohl viele Bauern sie behalten wollten und die Nachfrage unter den Verbrauchern groß war. Ein Züchter aus dem norddeutschen Raum versuchte mit einigen Mitstreitern jahrelang, die Kartoffel zu retten.

Kartoffel wieder im Handel

Sie hatten Glück: Linda wurde 2009 in Großbritannien zugelassen und durfte damit auch in Deutschland wieder gehandelt werden. Zudem wurde die Kartoffel wieder in die Saatgutliste aufgenommen. Nun sei, so die AbL, auch der Weg für andere alte Kartoffelsorten frei. Auch die Grünen sehen in dem Urteil einen Sieg für die Artenvielfalt. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast wertete die Entscheidung gar als einen Befreiungsschlag für Ökobauern.

Ganz anders argumentiert jedoch die Kampagne für Saatgut-Souveränität. „Dieses Urteil ist ärgerlich und wirklichkeitsfremd“, sagt Andreas Riekeberg von der Kampagne. Das Urteil schreibe die Begünstigung der Saatgut-Industrie und ihrer industriellen Pflanzensorten fort und bevorzuge damit Sorten, die einen hohen Bedarf an Dünger und Pestiziden hätten und sehr uniform seien. Die Saagutkampagne kritisiert, dass die EU die biologische Vielfalt nur in einem sehr kleinen Rahmen schützen wolle, gleichzeitig aber zu verhindern versuche, dass regionale, bäuerliche Sorten beispielsweise von Gemüse oder Ölsaaten einen Parallelmarkt zum Saatgutmarkt der Industrie bilden könnten.

Friedrich Longin hält das Urteil für wenig spektakulär. Es beziehe sich bisher nur auf Gemüse, nicht aber auf Getreide – und bei Gemüse betreffe es nur einige wenige Arten. Für die wissenschaftliche Arbeit an der Universität Hohenheim hat das Urteil keine Bedeutung. Denn die Wissenschaftler arbeiten mit sogenannten geschützten Arten, die nicht im Sortenregister geführt werden müssen. Dieses Urgetreide findet sich in keiner Liste.