Saisonbilanz Schauspiel Stuttgart Magische Szenen im Schauspielhaus

Verzweifelte junge Generation: Szene aus Schillers „Don Carlos“ mit Frida-Lovisa Hamann und Felix Strobel Foto: /Thomas Aurin

Trotz des Auftaktflops und Theaterskandals war die Spielzeit 2022/2023 die stärkste Saison seit Burkhard C. Kosminskis Intendanz am Schauspiel Stuttgart. Welche Schauspielerinnen waren zu entdecken, welche Regiearbeiten überzeugten besonders?

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Das Nichtgesagte zählt zuweilen mehr als das Herausposaunte. Das ist im Leben so wie in der Kunst. Im Schauspielhaus Stuttgart wurden manche Dinge nicht gemacht, Marotten und Trend einfach mal ausgelassen – ein künstlerischer Gewinn. Die Spielzeit 2022/2023 war trotz eines Theaterskandals die stärkste Saison seit Burkhard C. Kosminskis Intendanzstart im Jahr 2018.

 

Etwas überangestrengt haben viele Theater zuletzt versucht, auf den Zeitgeist zu reagieren, die tagespolitische Agenda abzuarbeiten, um ihre Relevanz zu beweisen. Die Kunst, die Ambivalenz ging oft verloren. Zunächst sah es auch in Stuttgart danach aus, die Ibsen-Inszenierung „Der Volksfeind“ durch den Hausherrn Kosminski krankte an genau diesem dramaturgisch verquasten Versuch, durch Figuren- und Textveränderungen alle Themen – Klimawandel, Feminismus, Kapitalismuskritik – ins Stück zu pressen.

Skandal um den Theaterpreis

Und dann fiel auch noch der vom Theater, Stadt und Land vergebene Europäische Dramatikerpreis aus. Erst hatte die Jury die britische Autorin Caryl Churchill gekürt und ihr den Preis dann wieder aberkannt, als in den Medien Kritik wegen Churchills Nähe zur israelfeindlichen BDS-Bewegung und ihrem als antisemitisch geltenden Stück „Seven Jewish Children“ aufgekommen war.

Der Schock mag heilsam gewesen sein: Von einer bemerkenswerten Leichtigkeit, Ambivalenz, Freude am Zweifel und guter Spiellaune sind in dieser Saison die restlichen Stuttgarter Inszenierungen im Schauspielhaus durchhaucht gewesen.

Anders als in Andreas Kriegenburgs verkrampft feministischem „Sturm“ am Deutschen Theater Berlin war das Shakespeare-Drama in Burkhard Kosminskis Inszenierung ein luftgeistig schräger, dabei durchaus Machtstrukturen infrage stellender Theaterbudenzauber, der Fantasie, Sprachkunst und das Theater selbst feierte, von dem das Stück eben auch handelt.

Dass der Abend so federleicht wurde, lag auch an Sylvana Krappatschs Luftgeist. Ariel quittierte die Befehle von Prospero – der wunderbare André Jung spielte einen von seiner Magierkunst schier gelangweilten Inselherrscher – mit herrlich ironischen Blicken und Kommentaren.

Ironische Meisterleistung

Federleichte Schauspielkunst: Sylvana Krappatsch und André Jung in „Der Sturm“ Foto: Toni Suter//

War „Der Sturm“ weniger politisch aufgeladen, war es ausgerechnet ein als Publikumsrenner gesetztes Stück umso mehr: In „Cabaret“ wurde viel gesungen und getanzt, der Regisseur Calixto Bieito zeigte überdies, wie in einer vermeintlich liberalen Gesellschaft schon das Grauen des Faschismus durchscheint.

Starke Frauen, ohne dass dafür zugleich Männer als alte weiße Auslaufmodelle verzwergt wurden, dominierten die Saison – sieht man ab von dem fast peinlich supermartialischen Gefolge von König Philipp in dem ansonsten schauspielerisch starken Schillerklassiker „Don Carlos“ in der Regie von David Bösch.

Felix Strobel überzeugte als himmelhochjauchzend zu Tode betrübter Titelheld ebenso wie die abgeklärt coole Königin Elisabeth, dargestellt von Frida-Lovisa Hamann.

Starke Frauen

Sylvana Krappatsch, Josephine Köhler und Sarah Franke begeisterten in „Annette, ein Heldinnenepos“. In der Bühnenversion von Anne Webers Langgedicht teilten sich die Schauspielerinnen die Rolle der Heldin, eine Frau, die Kriege und Ideologien übersteht – sie schlüpften in fliegendem Wechsel noch in andere Rollen.

Weibliche Paraderollen gab es auch in Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“, etwa für Paula Skorupa als Titelheldin und erst recht in Werner Schwabs „Präsidentinnen“, die etwas unter dem hochtourigem Inszenierungsstil von Amélie Niermeyer und den Kletterpartien litten. Christiane Roßbach, Celina Rongen und Anke Schubert hatten dauernd riesige Requisiten zu erklimmen und bespielen.

Furioses Finale

Dass man Bildern besser nicht traut, bewies das Ankündigungsplakat von „Forecast: Ödipus “, es ließ wüstes Kostüm-Trash-Theater fürchten. Zudem war es ein Wagnis, einen ironiestarken Autor auf einen ebensolchen Regisseur treffen zu lassen. Stefan Puchers Inszenierung von Thomas Köcks Neudichtung des antiken Dramas geriet dann aber zum fulminanten Saisonfinale mit einem starken Ensemble, angeführt vom Gast Thomas Hauser, der als Ödipus mit eleganter Nonchalance auftrat, um sich später tragödiengerecht schier zu zerreißen.

Und sonst? Funktionierte bis auf die verquast-verquatschte Musicalperformance „The Magic Key“ im Kammertheater das Konzept, in der Spielstätte zeitgenössische Autoren zu fördern, auch wenn das beim Mülheimer Theatertage geladene Stück „Der Triumph der Waldrebe“ von Büchnerpreisträger Clemens J. Setz leer ausging.

Neues Spiel, neues Glück? Man wird sehen. Dass sich die in den ersten Spielzeiten oft ängstlich um politische Korrektheit und tagesaktuelle Debatten sorgende Dramaturgie und Regie weiter etwas locker macht, ist zu hoffen. Das Ensemble, lässt man es nur, wäre stark genug, alle Konflikte dieser Welt auch ambivalent anspielungsreich auf die Bühne zu bringen.

Reihe: Bereits erschienen sind die Saisonbilanz des Stuttgarter Balletts (Dienstag, 2. August) sowie die Saisonbilanz der Oper Stuttgart (Mittwoch, 3. August).

Info

Schöne Überraschungen
Die Kollegialität der Stars: Sylvana Krappatsch, Evgenia Dodina sowie Gast André Jung ließen in Shakespeares „Sturm“ genug Platz im Rampenlicht für den Nachwuchs: Camille Dombrowski überzeugte als charmante nonchalante Prospero-Tochter Miranda.

Ärgernis
Die Beschädigung des Europäischen Theaterpreises wiegt schwer, zumal das Schauspiel Stuttgart sonst um Umgang mit dem Thema Palästina und Israel achtsam ist, siehe Mouawads „Die Vögel“-Inszenierung.

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