Grotesk gekleidet sind auch sie. Beatrix von Pilgrim steckt die Stützen der Gesellschaft in Kostüme, die einen Stich ins Ordinäre haben. Die verschlissenen Anzüge der Herren taugen höchstens für eine abgehalfterte Bohème – oder eben für das grandiose menschliche Bestiarium, das aus Wedekinds „Monstretragödie“ unter den beherzt zugreifenden, unfassbar weite Assoziationsräume aufreißenden Händen von Pilgrim, Lösche und Tsangari am Ende wird. Die Insassen ihres burlesken Bestiariums lassen sich nämlich nicht zähmen, da hilft keine Dressur und auch kein Dompteur. Um es mit Freud zu sagen: Noch immer regiert uns das Es, das Gebrodel aus Trieben und Instinkten, das dem Ich bis auf den heutigen Tag unkontrolliert in die Parade fährt – und diese dunkle, beunruhigende Ahnung, die menschliche Natur betreffend, unterstreicht die Regisseurin noch mit den von ihr gedrehten Videos. Zwischen den Akten dienen die Bühnenkugeln mal als Projektionsfläche für nervös hingestrichelte Graffiti zum Sexus der Frau, mal als Augäpfel der Dreifach-Lulu, die mit großen Pupillen verführerisch und verzweifelt, entspannt und panisch ins Publikum blickt.

 

Dass Athina Rachel Tsangari virtuos mit Videos umgehen kann, ist kein Zufall. Sie kommt vom Film und gilt, obwohl seit zwanzig Jahren in den USA arbeitend, als wichtigste Vertreterin des jungen griechischen Kinos. Mit „Atterberg“ beeindruckte sie 2010 das Publikum der Filmfestspiele in Venedig. Ihre Hauptdarstellerin, die Französin Ariane Labed, gewann damals den Preis als beste Schauspielerin. Labed ist auch jetzt als eine der drei wandlungsfähigen Lulus mit von der Partie.

Offensive der Frauen

Nicht zuletzt beweist die 51-jährige Tsangari mit ihrem souveränen Theaterdebüt, dass sie auch auf der Bühne mit Darstellern umgehen kann. Alle treffen den für ihr humanoides Bestiarium notwendigen Ton, unpsychologisch in seiner Sachlichkeit und trotzdem nicht ohne Teilnahme. Allen voran: Fritzi Haberlandt als Gräfin von Geschwitz, die sich in Liebe zu Lulu verzehrt, sowie Christian Friedel als Alwa und Rainer Bock in der Doppelrolle als Schigolch und Dr. Goll. Er, Bock, manövriert sich mit paternalistischer Gelassenheit in den Untergang. Lässiger und schicksalsblinder hat sich noch kaum jemand dem Tod ergeben.

Athina Rachel Tsangari ist nach Andrea Breth und Karin Henkel die dritte Regisseurin im diesjährigen Schauspiel der Festspiele. Und die Rechnung der neuen Theaterdirektorin Bettina Hering geht tatsächlich auf: Die Offensive der Frauen sorgt dafür, dass Salzburg im Sommer wieder eine Reise wert ist.