Das norwegische Wunderkind Magnus Carlsen will auf den Gipfel der Schachwelt. Im indischen Chennai spielt der 22-Jährige gegen den Titelverteidiger Viswanathan Anand um den WM-Titel. Doch der Favorit heißt Carlsen.

Chennai - Der „Mozart des Schachs“ – so nennen ihn manche Beobachter der Szene. Magnus Carlsen geht die Etikettierung als Genie auf die Nerven. Sein Vater sei viel intelligenter als er, sagt er immer wieder. Dass er als Achtjähriger entdeckt hat, was er am besten kann und sich nie über ein Studienfach oder einen Beruf Gedanken machen musste, das nennt er einen glücklichen Zufall. Zufall. Mehr nicht. Mit 22 hat der Norweger im Schach bereits fast alles erreicht. Schon als 19-Jähriger führte er die Weltrangliste an. Fast alle bedeutenden Turniere hat er gewonnen. Nur der Weltmeistertitel fehlt noch. Bis jetzt. Am Samstag macht er sich im indischen Chennai daran, das zu ändern. Magnus Carlsen geht als hoher Favorit in das Match gegen den Titelverteidiger Viswanathan Anand (Indien).

 

Carlsen führt die Weltrangliste mit großem Vorsprung an. Seine Elozahl ist 2870. Anand hat nur 2775. Statistiker haben daraus eine Chancenverteilung von etwa 90:10 errechnet. Sie nennen Anand den „Tiger von Madras“, doch angsteinflößend war er zuletzt selten. Anand ist nur noch die Nummer acht der Weltrangliste. Seinen letzten WM-Kampf gegen der Außenseiter Boris Gelfand gewann der Inder nur glücklich im Stechen. Sein erster Platz in Baden-Baden im Februar dieses Jahres war Anands erster Turniersieg seit 2008. Sein letztes Turnier vor der WM schloss er in Moskau als Vorletzter ab. Mit 43 Jahren hat er seine beste Zeit hinter sich.

Ihre letzte Begegnung gewann Carlsen in zwei Stunden. Auf Weltklasseniveau eine Demütigung. Vor einem Jahr brauchte er kaum länger, um den Inder an die Wand zu spielen. So schnell gibt es auf diesem Niveau selten einen Sieger, wenn kein grober Patzer geschehen ist. Beide Siege hatten gemein, dass die von Carlsen gewählte Aufstellung als harmlos galt. Wahrscheinlich traf er gerade damit einen wunden Punkt bei dem Inder, der auf als kritisch geltende Varianten gewöhnlich bestens präpariert ist. Carlsen setzt nicht auf tief ausgetüftelte Analysen, dafür versteht er es wie kein anderer, Probleme am Brett zu stellen. Aus Stellungen, die andere remis geben, quetscht er noch manchen Sieg. Als „Abstauber“ charakterisiert ihn sein Kollege Anish Giri. Zweikampferfahrung hat Carlsen allerdings kaum. Rundenturniere sind seine Stärke. Wenn es einmal nicht so gut läuft, wird er Zweiter oder Dritter.

Von seinem Vorbereitungscamp auf der norwegischen Insel Kragerö stellte Carlsen ein Foto auf Facebook, auf dem er von einem Fünfmeterbrett ins Meer springt. Er liebt es sportlich, ist regelmäßig im Fitnessraum. Carlsen sucht sogar seine Sekundanten danach aus, ob sie mit ihm Fußball, Basketball und Tennis spielen können. Kein anderer Spieler ist so durchtrainiert wie der bekennende Langschläfer und Fan von Real Madrid, der am Brett mit Vorliebe Nüsse knabbert und Orangensaft schlürft.

Magnus Carlsen, das Wunderkind, wuchs behütet in einem Osloer Vorort auf, der Vater ist IT-Berater, die Mutter Chemikerin, drei Schwestern hat er. Nach der WM will der Junggeselle Carlsen dann zuhause ausziehen. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde der Junge 2011 zum Mann, als er für eine Jeansmarke modelte und mit mürrischem Blick die Seitenwände von Bushaltestellen zierte. Der „Beckham am Brett“, wird er bisweilen genannt.

Coolness gelingt ihm auch dort. Nur im März bei der WM-Qualifikation zeigte er Nerven. Carlsen verlor zwei der letzten drei Partien. Zu seinem Glück verlor auch Wladimir Kramnik die Kontrolle, sonst wäre der jetzt Herausforderer und nicht zum ersten Mal seit 1921 kein Russe im Finale. Dass in Chennai (vormals Madras) gespielt wird, behagt Carlsen allerdings gar nicht.

Nicht so sehr, weil es Anands Heimatstadt ist, oder weil andere Städte wahrscheinlich mehr als 1,9 Millionen Euro Preisgeld geboten hätten, wenn der Weltverband nicht aus Machtkalkül auf eine Ausschreibung verzichtet hätte. Carlsen hat einen eigenen Koch mitgebracht. Er hat sich ausgeguckt, wohin er der voll klimatisierten Luft des Hyatt, in dem auch gespielt wird, entfliehen kann, um Sport zu treiben. Und er hat sich eine Klausel ausbedungen, dass ein erkrankter Spieler eine zweitägige Auszeit nehmen darf. So viel Vorsicht mag übertrieben erscheinen. Doch es ist Magnus Carlsens erstes Turnier in den Tropen.