Auf der kleinen Bühne des Stuttgarter Nord werden zwei Dramen von Dea Loher gezeigt. Das Schauspiel beweist erneut Mut zum Risiko und legt sein Schicksal in die Hände von vier Regisseuren, die alle um die dreißig sind.

Stuttgart - Heinrich Blaubart hat ein Problem. Obwohl er immerzu die Wahrheit sagt, nichts als die Wahrheit, wollen ihm die Frauen nicht glauben. „Ich bin ein vollkommen mittelmäßiger, noch dazu unsportlicher Schuhverkäufer mit einem alles andere als spektakulären Jahreseinkommen“, erklärt er und fährt fort: „Ich bringe den Frauen, die sich in mich verlieben, Untergang und Verderben.“ Stimmt. Und zwar genau. Der unauffällige Schuhverkäufer ist tatsächlich ein gemeiner Serienmörder, aber weil die Frauen in seinen rückhaltlosen Bekenntnissen nur eine besonders raffinierte Form der Verführung sehen, werden sie blind für die Gefahr, die ihnen droht. Am Ende wird der krankhafte Blaubart fünf Frauen erwürgt haben.

 

Woher dieser Mann ohne Eigenschaften seine fatale Anziehungskraft bezieht, das will die Dramatikerin Dea Loher in den vierzehn lapidaren Kurzszenen von „Blaubart – Hoffnung der Frauen“ ergründen. Bei der Uraufführung in München 1997 hat das Stück drei Stunden gedauert, in Stuttgart schnurrt es jetzt auf eine Stunde zusammen – nicht zuletzt auch deshalb, weil es im Nord noch mit einem anderen Drama der 48-jährigen Autorin kombiniert wird. Es heißt „Licht“ und bildet zusammen mit „Blaubart“ einen Doppelabend, der am Samstag rausgekommen ist, gefolgt von einem weiteren, freilich anders bestückten Doppelpack am Sonntag. Auf diesen zweiten Teil des Loher-Festivals kommen wir in der morgigen Ausgabe zurück, festzuhalten bleibt aber schon nach dessen Eröffnung zumindest eins: Das Stuttgarter Schauspiel zeigt erneut Mut zum Risiko und legt sein Schicksal in die Hände von vier Regisseurinnen und Regisseuren, die ausnahmslos alle um die dreißig sind. Am Wochenende durfte also der Nachwuchs ran.

Und wie das so ist mit den Experimenten: mal glückt eins, mal scheitert eins. Bei Jan Koslowskis „Licht“ hätte man mit den Augen am liebsten gleich auch die Ohren noch verschlossen, um sich den albernen, mit Tiefsinn um den Freitod von Hannelore Kohl kokettierenden Pubertätsquatsch vom Leib zu halten. Schwamm drüber! Bei Anna Dreschers „Blaubart“ dagegen, da waren die Sinne aufs Allerhöchste geschärft, gespannt darauf, hinter das dunkle Geheimnis des unscheinbaren Damenschuhverkäufers Blaubart zu kommen, der immerhin die „Hoffnung der Frauen“ verkörpert – zumindest bis zu deren frühem Ableben, für das im Nord der exzellente Benjamin Grüter als Titelheld sorgt.

Heinrichs Geheimnis liegt in keinem Geheimnis

Schon zu Beginn des Abends, wenn er sich und seinen Beruf vorstellt, ahnt man: Heinrichs Geheimnis liegt darin, dass er keines hat! Selbst im hintersten Seelenwinkel nicht. Auf der Bühne von Hudda Chukri stehen Särge, von denen einer als Truhe für Schuhe dient. Fachkundig packt Herr Blaubart nun einen Damenschuh nach dem anderen aus und doziert mit enthusiastischem Eifer über die Beschaffenheit von Frauenfüßen und Frauenbeinen, die mal fleischig, mal sehnig ausfallen, je nach Nationalität ihrer Besitzerin. Auf dem Feld weiblicher Gangarten ist er eine Koryphäe, ein überaus scharfer Beobachter, den seine Beobachtungen aber alles andere als selber scharf machen. Bar jeder erotischen Anfechtung breitet Blaubart sein Wissen aus – und eben weil da nichts ist, kein Verlangen, kein Begehren, eignet er sich auch hervorragend als Projektionsfläche für alle möglichen Wünsche der Frauen. Er ist ihre „Hoffnung“, wie Dea Loher sagt.

Benjamin Grüter gelingt in der Titelrolle nun ein kleines Kunststück: Er spielt sich, anders als sonst, kein massives Seelenvolumen herbei, sondern treibt sich dieses Seelenvolumen restlos und rückstandslos aus. Er verbannt es aus seinem Körper, um endlich so leer, sachlich und nüchtern zu werden, wie sein Titelheld es verlangt. Ein weißes Blatt Papier, das weiß und unbeschrieben bleiben will, weshalb sich sein Blaubart auch jede weibliche Zuneigung verbittet. Immer, wenn ihm die verblendeten Frauen mit Sehnsüchten und Bedürfnissen zu nahe rücken, regt sich seine Mordlust – und Grüter macht daraus ein mimisches Drama, das die Zwanghaftigkeit eines Serienkillers beklemmend zur Anschauung bringt. Das Gesicht verspannt, die Augen verengt, die Stirn verschwitzt steigt in ihm sichtbar der Wahnsinn hoch.

Blaubarts Opfer werden allesamt von der kaum minder starken Lisa Bitter gespielt, die sich in gleich fünf verschiedene Frauentypen glaubhaft verwandelt. Doch die einzige Frau, die in die Abgründe des Verkäufers blickt, ist die sehende Blinde der Anna Windmüller. Nicht zuletzt mit ihrem Entjungferungsmonolog fesselt sie die Aufmerksamkeit – an einem Schauspielerabend, den Anna Drescher souverän auf die Bühne bringt. Mit Sommerjazz ironisch unterlegt, bringt sie uns mit diesem Regiedebüt das lapidar wuchtige Stück von Dea Loher nahe. Das Schwere macht sie leicht, das Rätsel halbwegs lösbar. Weiter so!