Von wegen Schlecker-Frauen kommen leicht woanders unter. Noch immer haben Tausende keinen Job. Eine ehemalige Filialleiterin aus Dettenhausen hat es geschafft: ihre Odyssee vom letzten Arbeitstag bis zum Neuanfang.

Dettenhausen - Ein letztes Mal dreht Eva Dietz-Ruckh, die Fingernägel mit Sternen beklebt, das rechte Handgelenk bandagiert, den Schlüssel um. Sie hat die Rollläden heruntergelassen, den Kühlschrankstecker im Pausenraum gezogen, den Strom abgelesen, nur das mit den Fenstern, das ist ihr zu blöd. „Das sehe ich nicht ein, die Schaufenster klebe ich nicht ab“, sagt die Filialleiterin im schwäbischen Dettenhausen, und macht an diesem 29. Juni etwas, das sie noch nie gemacht hat. Sie ignoriert eine Anweisung ihres Arbeitgebers – das Fax mit den „letzten Maßnahmen bei Verkaufsstellenschließungen“, die penibel ausformulierte Anleitung zur Arbeitslosigkeit von tausenden Schlecker-Frauen.Die resolute Verkäuferin – mit den Tageseinnahmen in der Geldbombe unter einem Arm und der alten Rechenmaschine unter dem anderen – ist eine von ihnen.

 

An dem Tag, als die einst größte Drogeriemarktkette Europas ihre Läden schließt, hat Eva Dietz-Ruckh rot geschwollene Augen hinter der sechseckigen Brille und nur wenig Hoffnung, dass sie jemals wieder eine Stelle finden wird. Sie ist 56 und damit schwer vermittelbar, sie nimmt täglich Schmerztabletten wegen der fortgeschrittenen Arthrose zwischen den Lendenwirbeln und ist als ehemalige Betriebsrätin nicht gerade die Wunschkandidatin vieler Chefs.

Die Pleite von Schlecker ist auch ihr Absturz, fürchtet Eva Dietz-Ruckh, und es kommt ihr nicht in den Sinn, dass ein Ende auch ein Neuanfang sein kann. Vor lauter Schlaflosigkeit und Zukunftssorgen kann sie nicht glauben, dass sie drei Monate später wieder von Kunden angestrahlt wird, die ihr sagen. „Sie sind unsere Rettung im Dorf. Ein Glück, dass es Sie gibt.“

Nur knapp ein Drittel hat eine neue Stelle

So ergeht es längst nicht allen Entlassenen. Das Aus für Schlecker, einer der größten Konkurse der deutschen Nachkriegszeit, hat 23.300 Mitarbeiterinnen den Job gekostet. 14.000 sind noch auf Suche, nur knapp ein Drittel, gerade mal 7100, haben eine neue Stelle. Der Rest taucht in den Statistiken nicht mehr auf, hat sich abgemeldet – etliche, weil sie krank sind, andere, weil sie eine Rente beziehen.

Es war oft eine Zumutung als Filialleiterin bei Schlecker. In den elf Jahren hat Dietz-Ruckh einiges einstecken müssen. Einmal hat sie eine Abmahnung erhalten, weil sie ein dunkelblaues Geschenkband zu Ostern im Regal liegen hatte. „Die sagten, das wäre Weihnachtsware, und ich hätte es rausnehmen müssen.“ Richtig verletzt hat sie der Brief wegen ihrer Fehlzeiten, das war kurz nach einem Gespräch mit ihrer damaligen Bezirksleiterin. „Wir haben offen über meine Knieprobleme geredet, und dann kam dieses Schreiben. Die wollten mich am liebsten sofort loshaben.“

Sie hat die Kränkungen ignoriert. Die demütigenden Kontrollen nach Ladenschluss, als die Bezirksleiterin wie ein Wachhund vor der Tür wartete und die Handtasche auf nicht bezahlte Ware überprüfte. „Die hat nie etwas gefunden“, seufzt Dietz-Ruckh und zieht den Handscanner über einen Lippenstift. Die Ware muss raus, am letzten Schlecker-Tag kostet alles 20 Cent, vom Babybrei bis zur Parfümflasche. „Wir haben ordentlich gearbeitet in unserem Laden“, sagt die Filialleiterin, „40.000 Euro Umsatz im Monat auf 140 Quadratmetern, da hat alles gestimmt.“

Am letzten Schlecker-Tag muss alles raus

Mit dem Eintippen und dem Verabschieden kommt Dietz-Ruckh kaum hinterher. Das halbe Dorf schaut vorbei, um Tschüss zu sagen und noch ein Schnäppchen zu machen. „Gibt’s noch Katzenfutter?“ „Was kommt in den Laden rein?“ „Warum sind Sie eigentlich noch hier?“

„Weil ich dafür bezahlt werde“, sagt Dietz-Ruck und schluckt die Tränen hinunter. Sie hat sich an der Kasse verschanzt, sackt hinter der schützenden Plexiglasscheibe in ihrem weißen Kittel zusammen. Die Leere setzt ihr zu. Wie mechanisch verkauft sie Restposten. Die entzündete Rechte versucht sie zu schonen, im Ausverkauf musste sie tippen wie verrückt. Prothesenzahnbürste, Schwarzwurzelsamen in Tüten, WC-Papiersitz.

Um halb zwölf kommt ihr Enkel zu Besuch, wie er es immer nach der Schule macht. Ihr Ehemann Ewald holt sich vor der Spätschicht bei Daimler ein paar Socken ab und einen Liebesroman. Er hat in all den Jahren mitgeholfen, wo ein kräftiger Mann gefragt war, ohne Bezahlung. Er tauschte die Neonröhren aus und brachte sein Werkzeug mit, um die Preisschilder passgenau abzusägen.

Das Portrait der Schleckers landet im Altpapier

Von Anton Schlecker, dem Ehinger Metzger, der es bis zum Drogerie-Milliardär gebracht hatte, ist nur ein heller Fleck geblieben. Ganz oben an der gelb gestrichenen Wand im Büro. „Da hing ein Porträt von Anton und Christa, das war Vorschrift“, sagt Dietz-Ruckh, „damit wir sie erkennen und begrüßen können, wenn sie unangemeldet in einem Laden auftauchen. Dann war Schlecker-Alarm.“ Das Foto landete im Altpapier, als klar war, dass die einst so erfolgreiche Drogeriemarktkette bald Geschichte sein würde.

Fast ein Dutzend Bezirksleiter hat die Dettenhäuser Filialchefin kommen und gehen sehen, die meisten mochte sie nicht. „Es herrschte ein System der Überwachung und Angst, was immer du von dir preisgegeben hast, es wurde gegen dich verwendet“, sagt Dietz-Ruckh. Mit der letzten Vorgesetzten, der „Frau Werdich aus Bayern“, raucht sie noch eine Zigarette, stehend im Büro. Frau Werdich ist kurz vor Ende der Schlecker-Ära hereingeschneit, um der Filialleiterin auf die Finger zu schauen. Nein, die ausrangierten Regale dürfe sie nicht der Grundschule überlassen, die gehörten zur Insolvenzmasse. Und ja, das sei richtig: Die eine Briefmarke à 55 Cent, das EC-Gerät, die Bücher müssten in einem Karton an die Ehinger Zentrale geschickt werden. So habe alles seine Ordnung.

Fünf Tage später sitzt Eva Dietz-Ruckh nervös im Tübinger Arbeitsamt und hält sich an ihrer Mappe mit Unterlagen fest. Sie versteht nur die Hälfte, ihr schwirrt der Kopf vor lauter Formalitäten, die sie falsch machen könnte. Der freundliche Herr im kleinkarierten Hemd sagt: „Es sieht schlimmer aus, als es ist“. Dann rechnet er ihr vor, dass sie mit 959,70 Euro Arbeitslosengeld auskommen muss. Danach geht’s weiter zur Beraterin, die davon spricht, dass die Uhr tickt. Dass jetzt die Chance am größten wäre, vermittelt zu werden. Die aber auch sagt, dass Eva Dietz-Ruckh im Verkauf vermutlich nur eine wesentlich schlechter bezahlte Stelle als bisher erhalten könne. Bei Schlecker gab es Tarif, im Schnitt 13,52 Euro auf die Stunde, das haben sie sich hart erkämpft in einem Unternehmen, in dem Betriebsräte als Bedrohung galten und das Gründerpaar Anton und Christa Schlecker einen Strafbefehl wegen Betrugs erhielt, weil sie eine tarifliche Entlohnung jahrelang vorgegaukelt hatten.

Der Horror des Ausverkaufs verfolgt Eva Dietz-Ruckh

Der Rücken macht ihr schon lange zu schaffen. Ein ärztliches Gutachten soll klären, ob Eva Dietz-Ruckh überhaupt noch schwere Lasten heben kann, wie es ist mit stundenlangem Sitzen. „Ich habe Angst, dass ich nicht durchhalte in einem großen Einkaufsmarkt“, sagt die 56-Jährige. „Es gibt jüngere, die sie vor mir nehmen.“ Mit einer unterschriebenen Zielvereinbarung und dem Ratschlag, „sich nicht aufs Büro zu versteifen“ wird Dietz-Ruckh verabschiedet. „Ich muss das erstmal verdauen“, sagt sie und erzählt bei einer Marlboro vor dem Arbeitsamt von ihrem Albtraum. Der Horror des Ausverkaufs verfolgt sie im Schlaf. Sie steht zwischen leeren Regalen und weiß nicht, was tun. Hilflos und ausgeliefert, allein im Neonlicht. Bis sie endlich aufwacht.

Arbeitslosigkeit zerrt an den Nerven. Die Fenster hat Eva Dietz-Ruckh geputzt, den Keller entrümpelt. Die Enkel hat sie verwöhnt, wo es ging. Ihren Freundinnen beim Spieleabend erzählt sie, dass sie vom Arbeitsamt bisher nur einziges Angebot erhalten hat: als Servicekraft in der Tübinger Unikantine. Zwei Mal versuchte sie es persönlich bei Rewe, beide Male erfolglos. Auch die zehn Bewerbungen auf Stellen im Internet brachten nichts.

Der Frust lässt sich am besten unter Gleichgesinnten loswerden, beim Treffen der ehemaligen Schlecker-Frauen. Es ist der erste Montag im Oktober, ein Hotel im Metzinger Industriegebiet – und die Stimmung ist gereizt, als Eva Dietz-Ruckh ankommt. „Arsch putzen oder Kindergarten, das mach ich nicht“, sagt eine 50-Jährige, die sich über ihre Fortbildung ärgert. „Und das nach 30 Jahren im Verkauf.“ Eine andere zieht ein Schreiben vom Insolvenzverwalter aus der Handtasche, das sie nicht versteht. „Das heißt, dass wir nichts mehr kriegen“, erklärt ihr die Nebensitzerin. Die meisten der Frauen am Tisch haben keinen neuen Job, dafür aber Gezerfe mit dem Ehemann, weil sie viel mehr Zeit zu Hause verbringen. Hickhack mit dem Arbeitsamt und eine Wut auf alle Arbeitgeber, die Bewerbungsmappen nicht zurückschicken.

Wenig Verdienst, viel Einsatz

Als Eva Dietz-Ruckh gerade zu glauben beginnt, dass sie wirklich kaum vermittelbar sei, geschieht das Unerwartete. Der Dorfladen im Nachbarort Neuweiler sucht zum Jahresende eine neue Chefin, die bisherige will aufhören. Die Eckdaten klingen gut: 75 Quadratmeter, grün-weiße Markise und eine zuverlässige Stammkundschaft. „Das wäre das Richtige“, sagt Eva Dietz-Ruckh und trifft die Betreiberin.

Die beiden Großhandelskauffrauen sind schnell beim Du, beide Schwäbinnen, Profis im Verkauf und umgeben von familiären Helfern, ohne die ein Dorfladen nie funktionieren würde. Wenig Verdienst, viel Einsatz, das ist das Grundprinzip. Das könnte klappen mit der Übergabe. Wenn die Volksbank die billige Miete nicht erhöht, wenn Eva Dietz-Ruckh nicht der Mut verlässt, sich selbstständig zu machen. Ihr eigenes Ding, mit mittlerweile 57. „Ich habe es ganz genau durchgerechnet“, sagt sie, „die Tina hat mir die Bücher gezeigt, die spielt mit offenen Karten. Das mache ich.“

Im Dorfladen, wo es Briefmarken gibt und eine Abgabestelle für dreckige Wäsche, wo die Alten jederzeit willkommen sind und auf der angebauten Terrasse ihr zweites Zuhause haben, freuen sich alle über die Rettung des einzigen Geschäfts im Ort. Die 400-Euro-Kraft und der Apfellieferant, die Schüler, die es auf die Süßigkeiten abgesehen haben und Gerlinde mit der Krücke und der Stofftasche. „Wie heißt du?“, fragt sie die Neue und zieht sich schwerfällig am Geländer hoch.

Ob der Bäcker der gleiche bleibt, will die Rentnerin von Eva Dietz-Ruckh wissen. Ob sich die Schlecker-Frau schon gut eingelebt hat? Gerlinde trinkt an der Kühltruhe einen kräftigen Kaffee, damit der Blutdruck steigt und der Schwindel verschwindet. „Ich kauf hier alles, ich hab ja kein Auto“, sagt sie und erzählt, von der Thrombose, die sie quält, und dass der Fuß beinahe hätte wegmüssen. Sie reicht ihren Geldbeutel vertrauensvoll rüber zur Kasse, lässt sich gerne die Einkäufe heimtragen. „Nimm raus, was es kostet.“