Christoph Keller verwandelt stinkende Maische in wohlschmeckenden Obstler. Zu Besuch im Geschmacksparadies.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Münchhof - Jeder einzelne Schluck Schnaps ist Geschmackskino auf der Zunge. Das sensorische Erlebnis breitet sich in 3-D aus: Einzelne Aromen treten auf beinahe gespenstische Art plastisch hervor. Zuerst kommt die Pflanze, dann Holz und am Ende ist da noch eine weitere Nuance, die das Gehirn nicht richtig zuordnen mag. Kann das wirklich Erde sein? Der Geist vom Gelben Enzian aus den Pyrenäen feiert ein furioses Finale am Gaumen. Der Koriander aus dem hofeigenen Kräutergarten läuft filigran den Rachen hinunter und arbeitet sich zusätzlich über die Nase in Richtung Hypothalamus vor. Der Brand von der Odenwälder Eibe schmeckt, wie ein Wald riecht. „Den musst du jetzt auch noch probieren“, sagt Christoph Keller und schenkt einen Geist von der marokkanischen Nana-Minze ein, während der nur noch rudimentär vorhandene eigene Geist nach elf verschiedenen Schnäpsen längst die weiße Fahne hisst: Das sensorische Dauerfeuer ist so spektakulär wie fordernd.

 

Zum Glück dauert das Gespräch bereits dreieinhalb Stunden an, als Christoph Keller zur Schnapsprobe bittet. Auf der Destillata in Wien, einer Art Weltmeisterschaft der Profibrenner, hat Keller soeben den Titel „Edelbrenner des Jahres 2013 – Silber“ gewonnen: Christoph Keller gilt somit als zweitbester Brenner der Welt. Seine Stählemühle im Hegau, rund 20 Autominuten vom Nordwestzipfel des Bodensees entfernt, ist zur Pilgerstätte von Schnapsenthusiasten geworden, die bis zu 5000 Euro für Kellers Destillers Cut, sein komplettes Jahrgangsprogramm, ausgeben.

Es war ein Wacholderschnaps, der ihn in die erste Brennerliga schoss. Gemeinsam mit Alexander Stein, Spross der Weinbranddynastie Jacobi aus Großheppach, hat Keller mit seinem Monkey 47 für eine Gin-Renaissance in Europas Bars gesorgt. Der Schwarzwaldgin schaffte es bis auf die Karten der angesagtesten Bars und wird im Monatsrhythmus von einer anderen Publikation gefeiert. Zuletzt huldigte der „Kulturspiegel“ dem charakterstarken Destillat unter der Überschrift „Der Gin des Lebens“.

Hippe Interpretation des neuen Landlust-Ideals

Keller selbst steht seinem Gin mit gemischten Gefühlen gegenüber, erklärt er bei der Führung über seine Stählemühle, während seine Frau Christiane Schoeller in der ersten Frühlingssonne das Mittagessen im Freien anrichtet. Keller hat sich mit seiner Familie im Paradies wohnlich eingerichtet. Mit seinem Vollbart, seiner braunen Stoffschirmmütze und dem Blaumann sieht er aus wie eine hippe Interpretation des neuen deutschen Landlust-Ideals. Von links drängt ein Pfau ins Bild, der erst seit Kurzem die Kunst des Radschlagens beherrscht – dies aber schon recht eindrucksvoll. Auf der anderen Seite des Wohnhauses von 1750 ist eine Weide, auf der Lamas, Schafe und Ziegen grasen. Ein Bild, so bezaubernd, dass man auf der Stelle eine Leinwand auspacken und zum Landschaftsmaler umsatteln möchte. Der Gin ist schuld, dass dieses Idyll mittlerweile allzu oft gestört wird.

„Wann immer ein Bericht über den Monkey erscheint, stehen bei mir am nächsten Tag Besucher auf der Matte, die meinen Namen und den Gin gegoogelt haben und auf der Seite der Stählemühle gelandet sind“, erzählt Keller. „Wir haben hier aber weder einen Laden noch eine gläserne Produktion.“ Neulich, an einem Sonntagnachmittag, stand plötzlich ein Reisebus im Hof. Ihm entstiegen dreißig Italiener, die unbedingt alles sehen und erkunden wollten. Fast täglich gehen laut Keller Anfragen für ein Gin-Praktikum bei ihm ein – aus Thailand, Japan oder anderen Orten, die sich in Eigeltingen-Münchhöf recht weit weg anfühlen. Auf kulinarischen Messen ist er ein gefragter Gast, in Stuttgart gastiert er vom 11. bis 14. April auf der Slow-Food-Messe.

Christoph Keller ist ein Getriebener, der Bestandteile, Geschmäcker und Nuancen zusammenführt in einer Qualität, bei der man sich ungläubig oberhalb der Speiseröhre kratzt. „Was destillierbar ist, wird auch destilliert“, lautet sein Motto. „Brennen ist Alchimie: Aus einer stinkenden Maische entwickelt sich ein duftendes Produkt.“

Mühle statt Verlag

Dabei ist Keller erst seit acht Jahren Schnapspädagoge. Der brennende Autodidakt hatte zuvor den Kunstbuchverlag Revolver betrieben, der in seinen besten Zeiten bis zu 150 Bücher im Jahr veröffentlichte. Kellers Biografie umfasst so viele Brüche, dass man ein Buch daraus machen könnte – in der Tradition von Patrick Süßkind, dessen Protagonist in „Das Parfum“ die erstaunlichsten Düfte kreiert.Keller hat Kunstgeschichte in München und Kunstwissenschaft in Karlsruhe studiert. Bereits während des Studiums gründete er den Revolver Verlag. Gleich mit der ersten Veröffentlichung gelang ihm ein beachtetes Debüt: Das Bremer Künstlerduo Korpys/Löffler hatte Fotografien von konspirativen Wohnungen der RAF beim Landeskriminalamt in Tübingen geklaut. Christoph Keller und die Künstler machten daraus auf dem heimischen Drucker ein Buch in einer Auflage von 300 Stück.

Vor acht Jahren gab Keller den Verlag ab und kaufte zusammen mit seiner Frau die Stählemühle. Nach einem einwöchigen Crashkurs, den ihm der Sohn des Vorbesitzers spendierte und der nach Kellers Angaben eher dem Motto „Dilettieren statt Destillieren“ folgte, probierte er sich einige Jahre im Stillen als Brenner aus.

Heute kann Keller vorzüglich über die Parallelen zwischen Schnaps und Kunst dozieren, während er die Produktionsstätten vorführt. „Das empirische Vorgehen und das Experimentieren auf dem Weg zur Qualität sind beim Destillieren und bei der Kunst ähnlich.“ Und worin unterscheiden sich beide Felder? „Meiner Mutter hätte ich keines meiner Kunstbücher zeigen können, moderne Kunst setzt zu viel Wissen voraus. Beim Schnaps erhalte ich ein viel direkteres Feedback, auch vom Nachbar nebenan.“

Nebenher spielt Keller den Kunstclown

Fehlt dem Künstler mitten auf dem Land nicht manchmal der Austausch mit anderen Kunstinteressierten? „Ich spiele ja nach wie vor den gut bezahlten Kunstclown für den JRP-Ringier Verlag“, sagt er, für die Schweizer gibt Keller ausgewählte Kunstbücher heraus. Die großen Künstler-Egos, die überall mitreden wollten, habe er aber ohnehin irgendwann nicht mehr ausgehalten. „Wobei die Brennerszene fast genauso schräg ist.“ Weiter zur hochmodernen Brennanlage: der Raum riecht, als wäre man in eine Wanne voll frisch gepresstem Blutorangensaft gepurzelt. Der Brand der Sizilianischen Blutorange Moro ist Kellers erfolgreichstes Produkt.

Ein Stück weiter den Hang hinauf ist Kellers Lager, ein früherer Schweinestall. Hier befindet sich das komplette Schnapssortiment, eine Bibliothek mit Restbeständen des Revolver Verlags sowie ein professionelles Fotoequipment, mit dem Christoph Keller Obst fotografisch dokumentiert. Letzte Etappe: der Kräutergarten. Von hier aus kann man das gesamte Mühlengelände überblicken. Sieben Hektar bewirtschaften die Kellers, etwa 400 Obstbäume nennen sie ihr Eigen.

Wie viele Querköpfe verfügt Keller über Ansichten und Einblicke, die man andernorts nicht ganz so gerne hören wird. Er kann herrlich über die sensorische Versautheit von Sommeliers lästern oder über die Digestifkultur in Deutschland: „Wenn ich einen industriell hergestellten Schnaps in einem Sternerestaurant entdecke, frage ich den Betreiber, ob er auch Tiefkühlpizza im Sortiment hat.“ Kellers Kundschaft, die für die Schnäpse zum Preis von 55 bis 235 Euro tief in die Tasche greift, ist zwischen 30 und 60 Jahre alt. „Das sind Menschen, die gerne probieren und an anderen Statussymbolen als Autos oder Uhren interessiert sind.“

Dabei sind Kellers Geiste und Brände viel zu schade, um sie sich nur als Statussymbole ins Wohnzimmer zu stellen. Wer einmal von der Wahl’schen Bodenseebirne am Gaumen geküsst wurde, hat vom Baum der Erkenntnis gekostet: Vom Geschmacksparadies ist man in der Stählemühle immer nur einen Schluck entfernt.