Vor genau 125 Jahren wird der damals 14-jährige Problemjugendliche aus Calw in die Heil- und Pflegeanstalt Stetten eingeliefert. Diagnose: Größenwahn.

Rems-Murr: Sascha Schmierer (sas)

Kernen - Den Schlosshof in Stetten betritt Hermann Hesse am 22. Juni 1892 – in einem geistigen Ausnahmezustand. Im Klosterseminar Maulbronn hat er kurz zuvor Mitschüler bedroht, von Raufereien, Selbstmordfantasien und „eifernden antibiblischen Reden“ wird berichtet. Das Kollegium bittet die Eltern, den verhaltensauffälligen und als extrem aggressiv geltenden Jungen von der Schule zu nehmen. Zur Linderung seiner rasenden Kopfschmerzen wird der 14-Jährige in ein christliches Kurhaus nach Bad Boll geschickt. Doch das bringt keine Besserung.

 

Hermann Hesse läuft davon, leiht sich Geld von einem Schankwirt und kauft sich einen Revolver. Umbringen will er sich, aus Liebeskummer, aus störrischer Rebellion, aus pubertärem Weltschmerz. Die Heil- und Pflegeanstalt Stetten ist für die reichlich ratlosen Eltern der letzte Ausweg, um aus dem renitenten Problemjugendlichen einen gläubigen Menschen zu machen.

Blumengruß der Eltern zum 15. Geburtstag

„Wir sehen Dich in einem krankhaften Zustand, von dem Du geheilt werden kannst“, erklärt der Vater, ein im Geist des Pietismus verwurzelter Missionar, seinem Sorgenkind in einem Brief die Zwangseinweisung. Gesund werden im Remstal, das ist die Hoffnung. Zu seinem 15. Geburtstag schicken ihm die Eltern einen Blumengruß in die Anstalt.

Niemand ahnt 1892, dass aus dem sich auflehnenden und missverstanden fühlenden Jugendlichen ein Schriftsteller werden wird, der mit Büchern wie „Steppenwolf“, „Glasperlenspiel“ oder auch „Narziss und Goldmund“ zum meistgelesenen deutschsprachigen Autor avanciert und 1946 den Literaturnobelpreis erhält. Niemand ahnt, dass der unfreiwillige Anstaltsinsasse im Schreiben ein Ventil für Zornausbrüche und Zerstörungstrieb finden wird. „Er leidet an Gemütsentartung“, steht auf dem maschinengeschriebenen Krankenblatt aus dem Diakoniearchiv.

Seinen Frieden findet Hermann Hesse in Stetten nicht. „In das Gefängnis wollt ihr mich sperren? Lieber springe ich in den Brunnen dort“, ist seine erste Äußerung, als er den Schlosshof betritt. Es gibt Tage, an denen er Gefallen an der Gartenarbeit zu finden scheint und „freundliche Wärter“ lobt. Dann kehrt sich die scheinbare Gelassenheit ins Gegenteil um: „Gerne möchte ich fliehen, aber wohin? In Boll lernte ich lachen, dann weinen, in Stetten lernte ich fluchen“, schreibt der 15-Jährige über seinen Aufenthalt. Im ärztlichen Bericht wird der in Calw geborene Klosterschüler als „schwer zu behandeln“ eingestuft: „Er leidet an Größenwahn, fühlt sich zu Großem berufen, träumt von großen dichterischen Erfolgen“, lautet der Befund. Der Patient schicke sich zwar in die Anstaltsordnung, sei aber oft „verdrossen und lebensüberdrüssig“. Als etwa sechs Wochen nach der Einlieferung eine Besserung einzusetzen scheint, wird er am 5. August entlassen.

Doch der Wandel ist nicht von Dauer. Bereits am 22. August folgt die zweite Einweisung. „Er wird wieder eingeliefert, da er sich zu Hause nicht fügen kann, er ist grob gegen seine Eltern. Er sträubt sich gegen die Verbringung in die Anstalt und gibt Antworten nur mit zögernder Stimme. Über den Grund seines Betragens verweigert er die Auskunft“, heißt es in einer Aktennotiz der Anstalt. „Stetten ist mir die Hölle“, schreibt Hermann Hesse in diesem Spätsommer an seine Eltern.

Fünf Monate in Behandlung

Fünf Monate muss Hermann Hesse in der Heil- und Pflegeanstalt verbringen. Die Diakonie Stetten hat diese Zeit mit vielen Briefen an Eltern und Verwandtschaft sowie seinen ersten literarischen Zeugnissen in einem Band mit dem Titel „Ihr seid Christen, und ich – nur ein Mensch“ dokumentiert. Erst am 5. Oktober 1892 darf der berühmteste Insasse sein unfreiwilliges Gefängnis verlassen.

Am Gymnasium Bad Cannstatt besteht er zwar die „Einjährigen-Examen“ genannte mittlere Reife, bricht die Schule aber ab. Einer Buchhändlerlehre in Esslingen entläuft er nach drei Tagen. Im Frühsommer 1894 beginnt Hermann Hesse eine 14 Monate dauernde Mechanikerlehre in der Turmuhrenfabrik Perrot in Calw. „Die monotone Arbeit des Lötens und Feilens bestärkten in ihm den Wunsch, sich der Literatur und der geistigen Auseinandersetzung zuzuwenden“, ist darüber zu lesen. Im Oktober 1895 beginnt er eine zweite Buchhändlerlehre in Tübingen, die er ernsthaft betreibt. Die Arbeit sichert ihm finanzielle Unabhängigkeit. Noch als Buchhändler veröffentlicht Hesse im Herbst 1898 seinen ersten Gedichtband – und beschließt, die Erfahrungen seiner Jugend in einem Roman mit dem Titel „Unterm Rad“ zu verarbeiten. Die Erzählung erscheint 1906 – exakt 14 Jahre nach seiner Zeit in Stetten.

Lesung und Weinprobe zu Hesse

Vortrag
Kurz vor dem 140. Geburtstag Hermann Hesses wird Karl Rüdiger Marion, ein Mitarbeiter der Diakonie Stetten und ausgebildeter Weinerlebnisführer, im Sommersaal des Stettener Schlosses am Samstag, 24. Juni, an die schwere Zeit des Schriftstellers in der Heil- und Pflegeanstalt erinnern.

Lesung
Texte zum Thema Wein trägt der Esslinger Rezitationskünstler Manfred Tretter vor. Die Besonderheit der Lesung ist, dass der 64-Jährige, Mitglied des Esslinger Vereins Kultur am Rande, die Texte wegen einer Erblindung sozusagen mit den Fingern vorträgt.

Weinprobe
Kulinarisch abgerundet wird der Abend durch eine Weinprobe des Stettener Weinguts H. Bader. Zu verkosten gibt es neue Sommerweine des 2016er-Jahrgangs, unter anderem einen feinherben Jubiläumstropfen von der Scheurebe, die seit 100 Jahren existiert. Fingerfood, Brot und Hefezopf stehen für die Besucher ebenfalls bereit.

Anmeldung
Der Abend beginnt um 19 Uhr und kostet inklusive eines Glases Secco und einer Fünfer-Weinprobe pro Person 25 Euro. Dank der Expressbus-Linie X 20, die an der Diakonie Stetten hält, kann aufs Auto verzichtet werden. Anmeldungen: karlruediger@outlook.de oder unter Telefon 01 73 / 8 82 48 87.