Hilary Mantel ist die einzige Autorin, die zweimal den Booker-Preis bekommen hat. Jetzt hat sie Ärger mit dem Boulevard. Zugleich erscheint ihr preisgekrönter Roman „Falken“ auf Deutsch.

Stuttgart - Wie gut, dass auch im Vereinigten Königreich Hinrichtungen etwas aus der Mode gekommen sind! Wer weiß, was Hilary Mantel sonst zu gewärtigen hätte. Obwohl . . . was die britische Boulevardpresse veranstaltet, seitdem sie vor einigen Tagen spitzgekriegt hat, wie die zweifache Booker-Preisträgerin über die Herzogin von Cambridge sprach, erinnert schon ein wenig an das, was in „Falken“, dem jetzt auf Deutsch erschienenen jüngsten Roman der Autorin, beschrieben wird: „Für Hochverrat gibt es nur eine Strafe: Männer werden gehängt, lebend abgeschnitten und ausgeweidet, Frauen verbrannt. Der König kann das Urteil zu einer Enthauptung abwandeln, nur Giftmörder werden lebend gekocht.“

 

Mantel habe, hieß es in „Daily Mail“ und Konsorten, „bösartige“, ja, „vernichtende“ Dinge über Prinz Williams Kate gesagt, und alles aus „Neid“, weil die kinderlose Sechzigjährige, im Unterschied zur jungen schwangeren Herzogin, bloß davon träume, noch einmal schlank zu sein. Der „Hochverrat“: sie hatte in ihrem Vortrag „Royal Bodies“ Herzogin Catherine, Ehefrau der Nummer zwei in der englischen Thronfolge, in eine Reihe mit der geköpften französischen Königin Marie-Antoinette, der ebenfalls geköpften Anna Boleyn und der bei einem Autounfall gestorbenen Lady Diana gestellt – lauter königliche Körper, die nach Schauwert und Gebärfähigkeit beurteilt wurden und werden.

Es geht nicht um mutwillige Majestätsbeleidigung

Freilich, Hilary Mantels von royalem Zauber offenkundig ungefesselter Blick ergießt sich in dieser akademischen Rede auf Einladung der „London Review of Books“ immer wieder in ebenso zutreffende wie treffende Formulierungen. Sie vergleicht die Angehörigen des Hauses Windsor mit Pandas, „liebenswerten“ und „gefährdeten“ Bewohnern von Käfigen, „teuer in der Haltung und schlecht an moderne Lebenswelten angepasst“, sie beschreibt Kates Qualitäten in den Augen der Medienöffentlichkeit wie in denen der Familie, in die sie hineingeheiratet hat, als „so schmerzhaft dünn, wie man es sich nur wünschen kann, ohne Macken und Makel und ohne jede Gefahr, sich zu einem Charakter zu entwickeln“. Und sie umreißt klar und unbestechlich den Mythos Diana vom bräutlichen „Schlüpfen“ der „unbeholfenen“ Prinzessin bis zu ihrer Beerdigung, jenem „riesigen Karneval der Massentrauer“.

Aber es geht Mantel nicht um mutwillige Majestätsbeleidigung. Sie guckt nur sehr genau hin, auf die ernüchternde, nackte Wahrheit hinter den mal glitzernden, mal – wie zuletzt bei den Jubiläumsfeierlichkeiten des vergangenen Sommers – familialen höfischen Kulissen: dass nämlich königliche Persönlichkeiten vor allem durch ihre Funktion als Träger der Blutlinie definiert werden, als „Zuchttiere“.

Mantels Rede ist unübersehbar eine Erweiterung von Ernst Kantorowicz’ Studie über die „Zwei Körper des Königs“ auf die Körper von Königinnen. Und sie kann nur den überraschen und in die Rage des Überrumpelten versetzen, der nie einen Roman von Hilary Mantel wirklich gelesen hat. Denn so, wie sie auf die Herzogin von Cambridge schaut, schauen die handelnden Personen der beiden Bücher, für die Mantel – als bisher einzige Autorin – zweimal mit dem renommiertesten britischen Literaturpreis geehrt wurde, auf Anne Boleyn, die zweite Frau des Tudor-Königs Henry VIII.

Anne wird samt ihren „Liebhabern“ geköpft

Katharina von Aragon, die ihm eine Tochter geboren hatte, hat Henry in „Wolf Hall“ („Wölfe“, 2010), dem ersten Band einer geplanten Trilogie, dank dem diplomatischen Geschick und dem entschiedenen Zugriff seines Lordsiegelbewahrers Thomas Cromwell abserviert, um die zielstrebige Anne heiraten zu können, die ihm einen männlichen Erben verspricht. Im zweiten Teil entfaltet die Frage, ob es Anne Boleyn endlich gelingen wird, mit einem Sohn die Thronfolge zu sichern, eine geradezu quälende Dynamik, befeuert von einem weiteren die Handlung vorantreibenden Element, dem sich steigernden Interesse des Königs an Jane Seymour.

Der Ausgang – Anne samt ihren „Liebhabern“ geköpft, die Jungfer Jane geheiratet – ist bekannt. Aber da Hilary Mantel, bevor sie ins Visier der Fleet Street geriet, mit Recht als Erneuerin des Historischen Romans gefeiert wurde, ist es nicht die Spannung auf das Ende hin, die Schafotte von 1536, was den Leser in den Fängen der Erzählung hält. Das ist vielmehr Mantels Durchdringung der weltgeschichtlichen Umwälzungen dieser Jahre, in denen Liebeshändel, Eitelkeit und menschliche Schwachheit die Rolle von Schicksalsgöttinnen spielen. Und ihre faszinierende Zentralfigur, der Renaissancemensch Thomas Cromwell, Sohn eines Schmieds, der mit Fürsten verhandelt und mit Schulden handelt, Schachspieler, Rechtsgelehrter, Wohltäter, Papistenverfolger, Bankier, Strippenzieher, Freund des Königs, Werkzeug des Königs, Manipulator des Königs. Durch seine Augen sehen wir: seine Gegenwart ist die unsere; der ganze Roman ist im Präsens erzählt und durchbricht Cromwells personale Perspektive nie.

Das Original trägt den Titel „Bring Up the Bodies“, was sich vordergründig auf den Ruf an die Vollzugsbeamten im Tower bezieht, die „Leichen“, also die zum Tode Verurteilten, auf ihren letzten Weg zu führen. Aber es ist kein Zufall, dass „Bodies“ ja nicht nur Leichname, sondern auch lebende Körper bezeichnet. In jenem zumindest in Nordeuropa voranatomischen Jahrhundert ist der Blick der Welt auf die königlichen Körper gnadenlos, die Erwartungen, die sich darauf richten, völlig unverblümt. Cromwell hat in Italien der Sektion eines toten Mannes beigewohnt, aber „in eine Frau hat er nie hineingesehen, schon gar nicht in einen schwangeren Körper. Kein Chirurg würde eine solche Arbeit vor Publikum durchführen, auch für Geld nicht.“

Das 16. Jahrhundert rückt nah heran

Auch dieser zweite Teil kommt, wie der erste, ohne jede aktualisierende Anspielung aus. Er präsentiert die wendungsreiche Handlung samt allen diplomatischen, politischen und juristischen Haken und Ösen in souveränen Skizzen und ausgewählten Tableaus, verzichtet in wohltuendem Unterschied zu vielen zeitgenössischen Verarbeitungen historischer Sujets auf jede ermüdende Rechercheprotzerei.

Stattdessen nimmt Mantel eine ganz bestimmte historische Situation mit einer hochkomplexen Motivlage so in den Griff, dass sie dem Leser das Vergnügen beschert, das große Spiel um die Macht und die vielen kleinen Partien scheinbar unangeleitet zu entziffern: Netzwerk der Reformation gegen katholische Übermacht, ein Kontinent zwischen Kaiser und Papst, das Königtum mit schwacher dynastischer Begründung, Kriegs- und Bürgerkriegsgefahr. Und all das in einem eleganten Gewebe aus Sätzen, die im Original einen unwiderstehlichen Swing entwickeln. An den kann die Übersetzung naturgemäß nicht ganz heranreichen, zumal Werner Löcher-Lawrence der Kombinationsgabe des Lesers etwas weniger zutraut als die Autorin und beispielsweise das allgemeine „er“ öfter als sie zum „er, Thomas Cromwell“ erweitert.

So rückt das 16. Jahrhundert, rücken seine königlichen Körper in einzelnen Szenen sehr nah an uns heran, ohne die fundamentale Fremdheit zu verlieren. Das Wissen um den Abstand und der Umgang mit – historischen, sozialen – Distanzen bestimmen Hilary Mantels erzählerische Haltung. Und nicht nur die. Auch ihr Blick auf die Königinnen von gestern, heute und morgen setzt eine Distanz voraus, die das Fassen eigener Gedanken ermöglicht. Denjenigen, die uns lehren, diese Körper so anzuschauen, dass sie damit spekulieren und ihre – medialen, politischen – Geschäfte machen können, hat das noch nie gefallen.