Nicht mehr lange, dann versinkt die Landschaft zwischen Neckar und Alb wieder in einem Blütenmeer. Nirgends im Land reihen sich mehr Streuobstwiesen aneinander wie hier. Doch die Idylle ist trügerisch.

Region: Verena Mayer (ena)

Hausen - Hat er alles? Die Schere für die dünnen Zweige, die Schere für die dicken Zweige, die Säge für die niederen Äste, die Säge für die hohen Äste, die Leiter natürlich und den Beutel mit dem Hanfseil. Alles da? Ja, alles am Mann! Christian Kugler zieht die Schnürsenkel seiner rustikalen Thermoschuhe fest, drückt die Mütze auf seinem Kopf fest, und los geht’s. Strammen Schrittes auf die Wiese, wo die nackten Bäume stehen. Wären die Bäume Menschen, würde Christian Kugler sagen: „Die sollten dringend wieder zum Friseur.“ Aber Christian Kugler spricht nicht so. Er sagt, vor einem jungen Berner Rosenapfelbäumchen stehend: „Jetzt brenga mr den Kerle amol in Form“ – und zückt seine Schere.

 

Die Bäume, denen Christian Kugler an diesem Märztag ihren Winterschnitt verpasst, stehen im Scharlenbachtal. Das Scharlenbachtal liegt im Zollernalbkreis oder, wie Christian Kugler sagt, „do, wo andre Orlaub machet“. Er könnte auch sagen: Das Scharlenbachtal liegt im Paradies, einem sehr großen Paradies. Es umfasst eine Fläche von 26 000 Hektar, die sich zwischen der Alb und dem Neckar erstreckt und die die Heimat von 1,5 Millionen Obstbäumen ist. Christian Kugler müsste also, um ganz genau zu sein, sagen, dass das Scharlenbachtal im Streuobstparadies liegt. So heißt die größte zusammenhängende Streuobstwiesenfläche im Land offiziell.

Schnipp, schnapp – fort mit dem Gehölz

Es ist beruhigend, dass sich Christian Kugler um die Bäume des Scharlenbachtals kümmert. Wie jedes Paradies muss auch das Streuobstparadies gepflegt werden. Aber kann es auch beruhigend sein, wenn Christian Kugler so viel zu tun hat, dass man ihm wünschen möchte, die Knospen würden sich noch ein paar Wochen länger Zeit lassen, bis sie explodieren? Mal abwarten. Am Ende dieses Besuchs weiß man vielleicht mehr.

Kugler nimmt das Berner Rosenapfelbäumchen in genauen Augenschein. Jessas! Wie sehen denn die Leitäste aus? Viel zu verwachsen. Und hier, was soll man von diesen Fruchtästen halten? Viel zu verzweigt. Sieht nach einem Fall von gut gemeint aus: Loch gegraben, Baum reingesteckt, Loch zugeschaufelt, auf Früchte gewartet. Aber das hat natürlich keinen Wert. Auch ein Baum braucht Erziehung. Schnipp, schnipp, schnipp – weg mit dem überflüssigen Holz. Schnapp, schnapp, schnapp – hinfort mit den viel zu langen Trieben.

Gleichgesinnt über die Wiesen

Fairerweise muss man sagen, dass die Bäume im Scharlenbachtal nur deshalb so aussehen, wie sie aussehen, weil vor zwei Jahren der bisherige Baumwart gestorben ist und ein Nachfolger erst gefunden werden musste: Christian Kugler. Er kümmert sich ja schon um die Streuobstwiesen in Onstmettingen, Frommern und Albstatt. Und um die von Heselwangen, Bisingen und Weilstetten. Außerdem sitzt er dem Kreisverband der Obst- und Gartenbauvereine auf der Zollernalb vor und dem Ortsverein seines Heimatortes Hausen. Fachwart für Obst und Garten ist er sowieso.

Fairerweise muss man auch dazu sagen, dass Kugler sonst immer in Begleitung gleichgesinnter Obstbaumpfleger zu seinen Schnitttouren aufbricht. Aber heute ist es ihnen zu kalt. Sind nicht alle so abgehärtet wie Kugler, der zum Glück schon Rentner ist. „Ich weiß gar nicht, wie ich das schaffen würde, wenn ich noch Proletarier wäre“, sagt er und betrachtet sein Werk. Das Berner Rosenapfelbäumchen, das vor seiner Behandlung aussah wie ein kleiner Struwwelpeter, kommt nun daher wie ein schnittiger Sonntagsbaumschüler. Jetzt den Stamm noch fest an den Pflock binden, damit der Jüngling auch bei Wind und Wetter fest Tritt fassen kann, dann kann das was werden mit dem hohen Wuchs, der majestätischen Krone und den formvollendeten Früchten.

Den Römern sei Dank

Das schwäbische Streuobstparadies hat nicht der liebe Gott geschaffen. Das waren die Römer, indirekt. Als sie vor etwa 2000 Jahren über die Alpen marschierten, brachten sie Apfel-, Birn- und Kirschbäume mit. Im Gegensatz zu den Importeuren schlugen die Bäume hier Wurzeln. In den Klöstern widmeten sich die Mönche der Veredelung und der Vermehrung der importierten Köstlichkeiten. Und im Auftrag der Landesherren wurden die neuen Kulturen an Wegen, auf Äckern und in Weinbergen verbreitet. Im Falle einer schlechten Ernte auf den Feldern, so der Hintergedanke, bestand immer noch die Aussicht auf eine reiche Ernte in den Ästen. „Doppelte Ernährungssicherung“ lautet der Fachbegriff.

In Württemberg trieb sie dank der speziellen Erbsitte der Realteilung besondere Blüten. Weil die hinterlassenen Flächen zu gleichen Teilen unter allen Nachkommen aufgeteilt wurden, wurden die Stückle immer kleiner – und die Bäume immer mehr. Auf jedem geteilten Äckerle sorgte ein Erbe für doppelte Ernährungssicherungen. Als sich die Äcker mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts schließlich nach und nach in Grünland verwandelten, formte sich das Bild der heutigen Streuobstwiesen. Oder, wie Heimatkundler sagen: unserer Kulturlandschaft.

Bibernelle, Schafe und Sprechte – traumhaft

Christian Kugler steckt sich eine Reval an. Ein tiefer Zug in die Lunge, ein langer Blick auf das Tal. Ahhhh, kann es etwas Schöneres geben? Hmm, mal überlegen: Wenn das Grün der Wiesen unter den weiß, rosa und gelb flimmernden Blüten der Bäume verschwimmt, vielleicht. Oder wenn sich von unten das helle Violett des Wiesenstorchschnabels ausbreitet, das schleierhafte Weiß der kleinen Bibernelle und das knallige Gelb des Hahnenfußes. Sollte es der Anblick einer durchziehenden Schafherde sein, die Christian Kugler das Herz überlaufen lässt? Oder der eines Spechts, der bei einem dicken Kirschbaum anklopft. Und was ist mit den rot-orangen Flammen, die den Flecken im Herbst erleuchten – ist das die schönste Zeit im Paradies? Letztlich ist die Antwort einfach: „Ein Tag hier ist schöner als der andere.“

Aber wie jedes Paradies ist auch das Streuobstparadies bedroht. Die Zahl der Obstbäume minimierte sich seit den 1960er Jahren rasant. Bis dahin warfen in Baden-Württemberg 18 Millionen Obstbäume jeden Herbst tonnenweise Früchte ab. Doch als das Tafelobst aus den Plantagen am Bodensee kam und der Saft in Form von Konzentrat aus dem Ausland, fiel der Preis für das Streuobst so tief, dass sich die Arbeit nicht mehr lohnte. Außerdem wurden die Flächen anderweitig benötigt: für riesige Äcker oder Neubaugebiete. Anno 1990 wurden im Land weniger als zwölf Millionen Streuobstbäume gezählt, bei der letzten Schätzung im Jahr 2009 kam man nur noch auf etwas mehr als neun Millionen. Und ungefähr jeder vierte davon ist so alt oder ungepflegt, dass er nicht mehr allzu lange zu leben hat.

Streuobstwiesen ohne Streuostbäume – schauerlich

Wenn Christian Kugler an die Fotomontage denkt, die ihm jüngst unter die Augen kam, wird ihm ganz anders. Das Bild zeigte Streuobstwiesen ohne Streuobstbäume. „Schauerlich“, sagt Kugler, „wirklich schauerlich.“

Christian Kugler hat, als er ein Bub war, seinen Großvater zum Bäumeschneiden begleitet. Als der Opa zu gebrechlich wurde, ist der Junior durchs Gehölz geklettert. Später hat er seine Kinder mit auf die Familienwiesen genommen. Ihnen gezeigt, was ein Innenauge, ein Außenauge und ein schlafendes Auge ist. Erklärt, dass man Bäumen nie mehr als ein Drittel ihres Geästs auf einmal wegnehmen darf. Und ihnen den Satz eingetrichtert, den Kugler für den allerwichtigsten hält: „Eine Streuobstwiese ist ein Generationenvertrag.“ Seine Kinder haben ungezählte Bäume in die Erde gesetzt und ihrem Vater vier Enkel beschert. Einer der Söhne war sogar der jüngste Fachwart, der je durch den Zollernalbkreis zog. Aber so nachhaltig wurde leider nicht jedes Wiesle bestellt.

Zurück zur Natur

Fragt man Rolf Heinzelmann, ob er sich sehr sorgt um den Generationenvertrag Streuobstwiese, sagt er nicht etwa: „Um Gottes willen! Die Kulturlandschaft wird abgeschafft!“ Der Geschäftsführer des Landesverbands für Obstbau, Garten und Landschaft, kurz: Logl, sagt stattdessen: „Ich sehe das Glas lieber halb voll als halb leer.“ Dass Heinzelmann die schöne Hälfte sehen kann, liegt an der Wiederentdeckung der Natürlichkeit. Oder wie Heinzelmann es ausdrückt: „Draußen ist Bewegung!“

In den 80er Jahren rückten die Streuobstwiesen als Naherholungsgebiet ins Bewusstsein der Städter. In den 90ern erkannte die Politik, dass es sinnvoll sein könnte, die Pflege der Kulturlandschaft mit diversen Prämien zu fördern. Und heute pflanzen die Leute Gemüse im eigenen Beet an, schleudern Honig oder keltern selber Wein – und schätzen eben auch den Saft aus eigenen Äpfeln und Schnaps aus eigenen Zwetschgen. Seit der Logl Ende der 90er Jahre seine Ausbildung zum Obst- und Gartenfachwart anbietet, melden sich Jahr um Jahr mehr Schüler zu den Kursen an, zuletzt waren es 423. Die meisten von ihnen sind jung, sehr viele sind weiblich, berichtet Rolf Heinzelmann hochzufrieden. „Wenn die Leute den Schatz erkennen, den die Natur bereithält, dann sind sie gerne im Einsatz.“

Aha, die Altvorderen stellten die Pflege der Wiesen ein, weil sie sich nicht mehr rechnete. Den Nachfahren ist die Lust am Land Gewinn genug. Klingt, als wäre Heinzelmanns Glas ein bisschen mehr als halb voll.

Große Nachfrage gleich gutes Zeichen

Christian Kugler steht, nachdem er noch eine Goldparmäne, einen Bittenfelder und einen Jakob-Fischer in Form gebracht hat, staunend vor einem verwilderten Riesen. Die Zweige haarsträubend verwuchert, das Holz morsch. Die Äste krachen, wenn Kugler sie nur anschaut. Heidenai! Wie soll da noch ein Apfel gedeihen? Ritscheratsche, runter mit dem kaputten Glomp. Ritscheratsche, herein mit dem Licht durch die Krone. Ritscheratsche, Platz da für neue Triebe. Christian Kugler muss feste schnaufen. „Besser geht’s nicht“, sagt der Obstbaumpfleger und zündet sich noch eine Reval an. „Ich habe mein Fitnessstudio im Grünen.“

Bald ist auch im Zollernalbkreis die Zeit für den Winterschnitt vorbei. In der schneidefreien Zeit hält Kugler Vorträge an der Volkshochschule und organisiert Mostseminare. Und er bildet weitere Fachwarte für Obst und Garten aus. Bleibt die Nachfrage so groß, bleibt das Paradies im grünen Bereich.

Ein beruhigendes Zeichen.