In den S-Bahnen von München profitieren Fahrgäste, die amtliche Anordnungen in den Wind schlagen. Doch eigentlich kann nicht sein, was nicht sein darf, oder?

München - München ist kompliziert. Jeden Tag stellt diese Stadt hunderttausende von S-Bahn-Nutzern vor die schwierigsten Gewissensentscheidungen. Und das auch noch an den belebtesten beziehungsweise verstopftesten Stationen. Die Frauenstimme nämlich, die da – zum Beispiel – „Nächster Halt: Marienplatz“ ankündigt, die sagt gleich dazu: „Lift in Fahrtrichtung links. Bitte rechts aussteigen.“

 

Diese Durchsage enthält, ganz klar, ein Angebot und eine Anordnung. Wer allerdings das Angebot annimmt, sich die Fortbewegung per Lift erleichtern zu lassen, verstößt unweigerlich gegen die amtliche Anordnung, rechts auszusteigen. Und wer rechts aussteigt, kriegt nie den Lift. Dabei hat er seine Fahrkarte für das gleiche teure Geld gekauft wie der andere. Wir lernen: Es profitiert, wer öffentliche Anordnungen in den Wind schlägt.

Und täglich grüßt Karl Valentin

Da aber in einem allzeit vorbildlichen Gemeinwesen wie dem bayerischen nicht sein kann, was nicht sein darf, gerät jeder Fahrgast, der nicht auf krachledern unbekümmertem Anarcho-Trip ist, ins Grübeln: Muss er eigens in einem Rollstuhl sitzen, um sich über die Anordnung hinwegsetzen zu dürfen? Muss er einen Kinderwagen schieben und als staatsbürgerlich modellhaftes Elternteil den Sprösslingen jedes mal haarklein auseinandersetzen, wann man Verbotenes tun darf? Wie schwer müssen die Einkaufstaschen sein, um den Lift zu Hilfe rufen zu dürfen? Verbergen sich womöglich in den Haltestellen städtische Bedienstete mit einer Waage, und schicken sie Allzuleichtgewichte wieder in die S-Bahn zurück, womöglich nachdem sie eine mehr oder weniger kostenpflichtige Verwarnung ausgesprochen haben?

Überhaupt: Was soll ein Lift, der nicht benutzt werden darf? Oder einer, der nur neue Fahrgäste von oben in die S-Bahnröhren hinunter schaffen darf, aber leer wieder hochfahren muss? Wenn „Lift“ von „hochheben“ kommt, dann ist die Münchner Variante kein Aufzug, sondern ein Abzug. Karl Valentin hätte seine Freude gehabt.

Symptomatisch ist ja auch, dass München, die selbst ernannte „Weltstadt mit Herz“, solche tief- und tendenziell biersinnigen Grübeleien nur seinen deutschen Fahrgästen zumutet. Die englische Version der Durchsage geht nämlich so: „Next stop: Marienplatz. Please exit to the right.“ Kein Wort von der Existenz eines Lifts. Kein Spielraum für Anarchie. Klare Kante. Wo käme man denn sonst hin?