Er ging einfach los, mutterseelenallein auf dem Eis. Der zwölfjährige August Knoblauch war einer der Ersten, die bei der Seegfrörne 1963 das Schweizer Ufer erreichten.

Hagnau - Hinter der großen Glasfront leuchtet bleigrau der See, von der Schweizer Seite schaut die Sonne ins Wohnzimmer herüber. August Knoblauch sitzt zwischen weißen Möbeln, die Hände auf dem Granittisch gefaltet, und blinzelt aus einer randlosen Brille. „Sie sehen nicht gerade wie ein Draufgänger aus?“ – „Nein“, sagt er leise und lächelt.

 

Das also ist der Mann, der als zwölfjähriger Bub den noch nicht ganz zugefrorenen Bodensee überquerte. Ganz allein, am Mittag des 6. Februar 1963, nur im Pullover. Pudelmütze auf – und ab. Nicht mal ein Butterbrot in der Hosentasche. „Da war nichts dabei. Wir haben mit dem See gelebt damals.“ Das letzte Wort spricht Knoblauch so aus, als wäre diese Zeit ferner als der Mond. Damals, erklärt er, habe, wo wir jetzt sitzen, ein Bauernhäuschen gestanden mit Kuhstall und „all dem“. Zum Dorf hin geöffnet, nicht wie heute zum See. „Sehr bescheiden. Unser Vater, gelernter Küfer, hat als Arbeiter und Nebenerwerbslandwirt die Familie gerade so durchgebracht.“ Viel Plackerei und kaum Zeit für Kinder, was hieß: viel Freiheit für August. „Immer nasse Schuhe, nasse Strümpfe.“

Täglich spielte er am See. Mit drei Jahren wäre er beinahe ertrunken – „das war üblich hier“. Wie später das Kretzerangeln vom Steg. Oder die Schatzsuche im flachen Wasser, nach Munition vom letzten Krieg tauchen oder, noch toller, nach Pfeilspitzen aus der Steinzeit. Im Winter, wenn sich an der Uferzone Eis bildete, lief er Schlittschuh.

Im Jahr 1963 gibt es deutlich mehr Rand-eis. Im Januar, erinnert sich Knoblauch, kommt im Dorf Hagnau das Wort „Seegfrörne“ auf. Was soll das sein? Die Zusammenhänge begreift er erst später: niedriger Wasserstand und kaum Wind, früher Frost, eine höchst seltene Konstellation, dann eine Periode arktischer Kälte. Das letzte Mal hatte es dies anno 1880 gegeben. Als Zwölfjähriger nimmt August nur wahr, was er sieht: Das Eis wächst! Jeden Tag testet er mit den anderen Buben, wie weit es in den See ragt. Sie robben sich vor. „Weltrekord!“, schreit der vorderste und landet schon im Wasser.

Er sieht, wie zwei Expeditionen starten

Am frühen Morgen des 6. Februar steht August mit zwei Kumpel am See. Das Thermometer zeigt 21 Grad minus. Es ist diesig, das Schweizer Ufer nicht zu sehen. Jetzt, beschließen sie. Zur Vorsicht nehmen sie lange Rebstecken mit, falls einer einbricht. Etwa anderthalb Kilometer legen sie zurück. Bevor Hagnau außer Sichtweite gerät, kehren sie um. „Isch zue?“, ruft ihnen ein Fischer am Ufer zu.

Ab in den Schulunterricht. Durch das Fenster des Klassenzimmers beobachtet August Knoblauch ein Dutzend Männer am Hafen, die sich zur Seeüberquerung vorbereiten. Zwei Expeditionen sieht er. Die eine mit einem Rettungsboot auf vier Schlitten. Die andere nur auf Skiern und Schlittschuhen. Seile, Leitern, Schnaps und eine Trompete für vielleicht notwendige Notrufe. Es soll offenbar ein Wettlauf werden. Wer erreicht zuerst das Ziel? „Wie Scott und Amundsen?“ – „Ja, so ungefähr.“

Gleich nach Schulschluss rennt August zum See. Den Ranzen an die Mauer geknallt und los. Auf dem dunklen Eis ist die Spur der Schlittschuhläufer zu sehen. Er folgt ihr. „Wenn das Eis den dicken Urnauer trägt, wird es mich auch tragen.“ Kein Mensch in Sicht, bald auch kein Hagnau mehr, und vor ihm keine Schweiz. „Sie hätten sich verirren können!“ – „Nein, ich hatte ja die Spur.“ Sieben Kilometer sind es, anderthalb Stunden, bis er den Fuß auf das Schweizer Ufer setzt, wo schon die vielen Leute stehen. Ein Reporter der Zeitung „Blick“ schießt ein Foto von ihm. Das Bild, das anderntags auf der Titelseite erscheint, zeigt einen ganz und gar nicht erschöpften Jungen, in seinen Augen liegt ein kindliches Weltvertrauen.

Mit elf wäre er dafür vielleicht zu zaghaft gewesen. Mit dreizehn schon zu vernünftig, noch ein Jahr weiter ein Lehrling in der Zucht eines Meisters. Er ist an diesem historischen 6. Februar 1963 der jüngste Erstüberquerer. Drüben trifft er die Hagnauer Expedition wieder, der er gefolgt ist. Die andere, heißt es, sei unterwegs eingebrochen, aber auch in Sicherheit. „Wie die Marsmenschle“ werden sie von den Schweizern empfangen. „Wo ist dein Pass?“, fragt der aus Kreuzlingen angereiste Statthalter den verdutzten August. „Wieso Pass?“ Nach dem Mittagessen verfrachtet man die verwegenen Deutschen in einen Bus, ein Rückmarsch wäre zu riskant.

540 Quadratkilometer Eisfläche für jedermann

„Der See isch zue!“ Wie ein Lauffeuer geht es um den Bodensee. In den nächsten vier Wochen pilgern Zehntausende hinüber und herüber. 540 Quadratkilometer Eisfläche, offen für jedermann. Zoll und Grenzpolizei sind machtlos, im Dreiländereck sind die Grenzen praktisch aufgehoben. Zwischen den Schlittenkolonnen, fidelen Ausflüglern mit und ohne Hund, Kaffee schmuggelnden alten Damen immer wieder der Junge August Knoblauch. „Fast jeden Tag bin ich auf meinen Schlittschuhen rüber. Und wenn Schnee lag, mit dem Fahrrad.“ Durch die Zeitungen ist er am Schweizer Ufer bekannt wie ein bunter Hund: „Ah, der Gustl!“ Mal kriegt er eine Schokoladentafel geschenkt, oder er wird zu einer Ovomaltine eingeladen.

Er ist Augenzeuge des größten Ereignisses der Seegfrörne: der Eisprozession am 12. Februar. Zweitausend Gläubige ziehen an diesem Tag von Münsterlingen in der Schweiz nach Hagnau, um die Büste des heiligen Johannes zurückzuholen. Ein Bodenseebrauch aus dem Jahr 1573 – damals hatte die Thurgauer Gemeinde zum Zeichen der Verbundenheit den Johannes ins badische Hagnau gebracht. Bei jeder neuen Seegfrörne sollte sie wieder auf die andere Seite wechseln. Als Ministrant kennt August den schiefäugigen, langnasigen Johannes. Er weiß von ihm nur so viel, „dass er zurückmuss, wenn der See gfriert“. Als die Eispilger von drüben aus dem Dunst auftauchen, steht der Bub in der Menschenmenge am Kai. „In Hagnau war der Teufel los.“ Böllerschüsse, Blasmusik, die Gasthäuser gerammelt voll. Bis am Abend, nach weinseliger Verbrüderung, die Schweizer mit ihrem Johannes wieder aufbrechen. Es ist das siebte Mal in knapp vierhundert Jahren, dass er übers Eis wandert.

„Hat die Seegfrörne für Ihr Leben Bedeutung gehabt?“ – „Nicht sehr.“ Schon zwei Jahre danach hat August Knoblauch seine Elektrotechniklehre angefangen, „eine völlig andere Welt“. Bei diesem Thema blüht er auf, mit weit ausladenden Gesten erklärt er die Raumfahrt, besonders die Stromversorgung von Satelliten. Welch ungeheuerliche Energiemenge sie bräuchten, schwärmt er, allein um das Schwerefeld der Erde zu verlassen, und dann mit Schwung in Richtung Jupiter. Der Armeleutesohn aus Hagnau ist einer der Väter des europäischen Navigationssystems Galileo.

Das große Volksfest auf dem See

London, Cape Canaveral, Peking – nach jeder Dienstreise ist Knoblauch nach Hagnau zurückgekehrt. Sein Arbeitgeber, die Firma Dornier, befand sich in der Nähe, in Immenstaad. Warum „dieser Naturmensch August“ so einen Beruf ergriffen hat, da wundert sich seine Ehefrau Monika immer noch. Eine Zeit lang sitzen wir zu dritt um den Tisch. Schauen durch die Glasfront auf den dunkler werdenden See, in dem sich Himmelsrosa spiegelt. „Ein Radler bin ich immer noch“, sagt Knoblauch in die Dämmerung. „Und ein Jäger. Nachts auf dem Hochsitz auf Füchse ansitzen ist das Größte.“

Wir schieben einander alte Fotografien und Zeitungsartikel zu, vor uns auf dem Granittisch ist das große Volksfest von damals ausgebreitet: Radler, die Slalom zwischen eingefrorenen Schifffahrtszeichen fahren. Würstchenbuden auf dem Eis. Jauchzende Kinder allüberall. Buntes Narrentreiben auf spiegelnder Fläche, ein schleudernder Fiat Topolino mit Schweizer Flagge, ein mit Blumen bekränzter Ackergaul, zwei Nonnen im wehenden Habit. Alle sind erfasst von der Leichtigkeit des Seins.

Und in unseren Köpfen tauchen andere Bilder auf: die Raketen auf Kuba, Oktober 1962, Ost und West am Rande eines Atomkrieges. Jerusalem kurz vor dem Eichmannprozess. Im Rückblick erscheint die Seegfrörne wie ein Wunder – Wochen, in denen das Schwere wie weggeblasen ist, die Natur eine Brücke baut zwischen den Ländern, Freundschaften entstehen, einfach so, ohne Konrad Adenauer und Charles de Gaulle. „Durch das Eis war plötzlich ein neuer Weg da, und den sind wir einfach gegangen“, sagt August Knoblauch.

In den letzten Tagen noch sind zwei Schüler, kaum älter als er, auf einer Eisscholle abgedriftet und gestorben. Es gibt keine Statistik über die Todesopfer, zehn waren es etwa, vielleicht mehr. Wir spekulieren: Ob es noch einmal eine Seegfrörne geben wird? Angesichts der globalen Klimaerwärmung eher unwahrscheinlich. „Und wenn doch“, meint August Knoblauch, „ist es nicht dasselbe wie damals vor fünfzig Jahren, es wäre kein echtes Abenteuer mehr.“ Mit Handy, GPS oder dem noch feineren Navigationssystem Galileo, mit Neoprenanzug und all dem.

Wahrscheinlich bleibt August Knoblauch das einzige Kind, das den Alleingang gewagt und überlebt hat. Im März 1963, als die Eisdecke auf dem Bodensee mit Donnergetöse reißt und der Wind gewaltige Eisgebirge auftürmt, beobachtet er vom Ufer aus dieses Schauspiel. Und empfindet dabei so etwas wie Wehmut.