Der Sindelfinger Polizist Uwe Grandel lehrt seit 20 Jahren, wie man sich richtig wehrt. Zurzeit besuchen besonders viele Frauen seine Kurse.
Böblingen - Wenn Gabriella Parditka, 43, abends von der S-Bahn nach Hause läuft, fühlt sie sich ruhig und entspannt. Das ist für die zierliche Frau nicht selbstverständlich. Mehr als 20 Jahre lang waren Angst und Panik ihre Begleiter – Folgen eines Übergriffs: „Ich war damals noch sehr jung und wurde auf der Straße von einem Mann nach dem Weg gefragt. Als ich die Arme hob, um ihm die richtige Richtung zu zeigen, begrapschte er mich und fasste mir in den Schritt.“ Körperlich blieb Gabriella Parditka unversehrt, doch das Erlebnis brannte sich tief in ihr Unterbewusstsein. Unsicherheit prägte ihr Verhalten, sobald sie alleine in der Stadt unterwegs war. Eines Tages schlug ihr Ehemann vor: „Mach doch mal einen Selbstverteidigungskurs.“ Sie meldet sich bei Uwe Grandel an.
Grandel, ein Polizeibeamter aus Sindelfingen, machte schon als Kind Karate. Später lernte er Kickboxen, das er schließlich auf höchsten Niveau betrieb: Unter anderem wurde er 1997 Europameister. Im selben Jahr begann Grandel damit, Selbstverteidigungskurse für Frauen, Kinder und Männer zu leiten. „Die Entscheidung, meine Kenntnisse weiterzugeben und dadurch vielleicht helfen zu können, hängt auch mit der Entscheidung für den Beruf des Polizisten zusammen“, sagt der 43-Jährige. Sein Ziel: „Ich möchte allen Kursteilnehmern das Gefühl geben, kein Opfer zu sein.“
Grandel rät Frauen, möglichst früh und eindeutig Grenzen zu setzen. „Hört auf euer Bauchgefühl“, rät er den zehn Teilnehmerinnen, die an einem Sonntag zu seinem Selbstverteidigungskurs gekommen sind. „Wir Männer kennen nur Hunger und Durst, ihr aber merkt genau, wenn ihr euch in einer Situation nicht wohlfühlt.“ Egal, ob Worte oder Berührungen, „macht verbal unmissverständlich klar, wenn ihr etwas nicht wollt“. Wenn dies nichts nütze, sei es besser, die Flucht zu ergreifen, als eine Eskalation zu riskieren.
Uwe Grandels schwierige Mission
„Ich wurde am helllichten Tag in einem Stuttgarter Supermarkt angemacht“, erzählt die Kursteilnehmerin Andrea Peterle. „Plötzlich griff ein Mann von hinten meinen Einkaufswagen und sagte: ,Komm, wir gehen was trinken.‘“ Die junge Frau schrie den Mann an, er solle sie in Ruhe lassen. Hilfe von Mitarbeitern oder Kunden des Marktes? Fehlanzeige. Andrea Peterle ließ den gefüllten Einkaufswagen stehen und rannte aus dem Laden. Niemand folgte ihr. Dennoch habe sie unter Schock gestanden, sagt sie.
3436 „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ weist die Kriminalstatistik im Jahr 2015 für Baden-Württemberg aus. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. „Es wird davon ausgegangen, dass die Dunkelziffer 50-mal höher liegt“, sagt Grandel. Viele sexuell motivierte Übergriffe werden aus Scham oder Angst vor dem Täter nie angezeigt. Auch Andrea Peterle ist nicht zur Polizei gegangen. Ein Fehler, findet ihr Selbstverteidigungslehrer. „Schließlich können andere Frauen nur geschützt werden, wenn die Täter der Polizei möglichst früh bekannt sind.“ Wer heute in einem Supermarkt dreist Frauen anbaggere, könnte morgen vielleicht auch zu einem schlimmeren Übergriff fähig sein.
Seine Teilnehmerinnen auf Situationen vorzubereiten, die hoffentlich nie eintreten, ist Uwe Grandels schwierige Mission. „Wenn Kommunikation nicht ankommt und Flucht unmöglich ist, euch jemand trotzdem zu nahe kommt und ihr euch zum Kampf entscheidet: seid kompromisslos und skrupellos“, sagt er. „Die ersten Schläge oder Tritte sind entscheidend. Wer einen Angreifer nur kitzelt, riskiert, seine Aggression zu steigern.“ Der oft propagierte Tritt unterhalb der Gürtellinie sei keinesfalls das erste Mittel der Wahl: „Bei einem alkoholisierten oder unter Drogen stehenden Mann wirkt das unter Umständen wenig.“ Stattdessen: „Versucht, den Kopf zu treffen.“
Der perfekte Treffer
Das wird nun trainiert. Die Frauen stehen sich gegenüber, nehmen das Jochbein, die Nase und die Ohren ihrer Sparringpartnerin ins Visier, an diesen Stellen tut ein Schlag besonders weh. Diejenige, die einstecken muss, hält sich Polster vors Gesicht. „Wenn ihr euren ganzen Körper einsetzt, habt ihr mehr Kraft, als ihr glaubt“, sagt Grandel und erzählt, dass ihm mal eine Teilnehmerin beim Üben die Nase gebrochen habe. Im Notwehrfall wäre das der perfekte Treffer, der den Gegner ausknockt.
Geschlagen wird mit dem Handballen, um das Handgelenk nicht zu verletzen. „Die Ellbogen bleiben eng am Körper, um keine Angriffsfläche zu bieten und Kraft zu sparen.“ Zunächst sind die allermeisten Frauen sehr vorsichtig. Gesellschaftlich sind sie darauf programmiert, andere nicht zu verletzen. „Ihr müsst explodieren“, ruft Grandel. „Es geht darum, im Kopf den Schalter auf Attacke umzulegen.“
Nächste Übung: der Schlag mit dem Ellenbogen. Tanja Berberich soll ihre Arme eng an den Kopf legen, „einigeln“ nennt das Grandel. Aus dieser Position heraus versucht sie, gezielt einen Treffer mit dem Ellenbogen zu landen. Berberich holt aus, und ihrem Haken ist anzusehen, dass sie nicht zum ersten Mal einen Selbstverteidigungskurs besucht. „Ich hatte immer das Gefühl, dass ich mich gut wehren kann“, erzählt sie. Doch in letzter Zeit habe sie sich unsicher gefühlt, vor allem, wenn sie Migrantengruppen begegnet sei: „Ich befürchte, dass manche dieser Männer ein anderes Frauenbild haben als wir hierzulande.“ Von Grandel möchte sie wissen, wie sie sich einer Gruppe von Angreifern gegenüber verhalten solle. „Man kann sich nicht auf mehrere Personen gleichzeitig konzentrieren“, antwortet er. „Daher sucht man sich am besten den Rädelsführer aus und attackiert den.“
Die Folge einer Silvesternacht
Uwe Grandel mag es nicht, wenn ein Zusammenhang zwischen Zuwanderung und sexuell motivierten Taten hergestellt wird. „Solche Übergriffe hat es leider schon immer gegeben“, sagt der Polizist, der auf 25 Jahre Berufserfahrung zurückblickt. Wohl aber habe sich das Gefahrenbewusstsein vieler Frauen seit der verhängnisvollen Silvesternacht 2015 verändert, als es in Köln und anderen deutschen Städten zu massiven sexuellen Übergriffen kam. „Diese Vorfälle haben sicherlich dazu beigetragen, dass sich mehr Frauen für den Ernstfall wappnen wollen. Wir hatten aber auch vor dieser Nacht eine Vielzahl von Kursanfragen.“ Ende der 90er, Anfang der 2000er Jahre bot Grandel ein bis zwei Kurse für Frauen pro Jahr an, mittlerweile sind es vier bis sechs.
Genug geredet, zurück zum Training. Thomas Günthner, der zweite Trainer, legt einen Ganzkörperschutzanzug, einen Helm und einen Mundschutz an. Schwarz verpackt spielt er nun den Frauenschreck. Immer näher rückt er den Teilnehmerinnen auf die Pelle, macht sie saublöd von der Seite an. „Wenn Worte nicht helfen, müsst ihr jetzt abhauen oder zuschlagen“, schreit Grandel. Für Gabriella Parditka ist die Situation eine Herausforderung. Offenbar kommen Erinnerungen hoch. Ihre Augen verengen sich, Tränen laufen über die Wange. Dennoch schlägt sie mit Handballen und Ellenbogen hart nach dem Angreifer und brüllt: „Lass mich in Ruhe!“ Uwe Grandel und die Teilnehmerinnen applaudieren.
„Durch die Selbstverteidigungskurse habe ich mich von der Angst befreit, nicht zu wissen, was ich in solch einer Situation tun soll“, sagt Gabriella Parditka. Dann macht sie sich im Dunkeln alleine auf den Weg zur S-Bahn. Ihre rechte Hand ist in der Jackentasche versteckt, ihre Finger umfassen einen Kubotan. Der kurze Stab, der ursprünglich zur Selbstverteidigung weiblicher Polizisten des Los Angeles Police Department entwickelt wurde, ist eine zugelassene Stichwaffe. Zusammen mit den Verhaltensweisen und Schlagtechniken, die sie bei Uwe Grandel gelernt hat, gibt der Kubotan Gabriella Parditka die Sicherheit, die sie 20 Jahre lang vermisst hatte.