Im Renninger Ursula-Mathes-Haus leben Senioren, die mit einer eigenen Immobilie überfordert, aber noch zu selbstständig für ein Pflegeheim sind.

Renningen - Helga Elbers ist ein rüstige Seniorin Anfang 80. Als ihr Mann 2018 verstarb, war ihr Reihenhäuschen zu groß geworden, zu anstrengend sowieso. „Das Treppensteigen, der Garten, fünf Zimmer für mich alleine, das war einfach zu viel.“

 

Die gepflegte Dame sitzt am Tisch im großen Gemeinschaftsraum des Renninger Ursula-Mathes-Hauses. „Und dann erfuhr ich von dem geplanten Wohnhaus für Senioren in der Alten Bahnhofstraße“, erzählt sie weiter. „Der Grundgedanke ‚Miteinander/Füreinander‘ hat mich sofort angesprochen, und ich wusste, das ist es. Da will ich einziehen.“ Sie lacht, die Zufriedenheit mit dieser Entscheidung ist ihr nach bald einem Jahr in der Seniorengemeinschaft deutlich anzumerken. Im Frühjahr 2020 sind die neun Wohnungen bezogen worden. Singles und Paare im Alter zwischen 62 und 83 Jahren leben seitdem hier in Wohnungen mit Wohnflächen zwischen 45 und 80 Quadratmetern.

Für Helga Elbers ist das Projekt ein Glücksfall gewesen, doch der Hintergrund der Entstehung des Ursula-Mathes-Hauses stimmt nachdenklich.

Grundstück für die Bürgerstiftung

Die Renninger Künstlerin Ursula Mathes hat 2018 ihr Haus und das rund 13 Ar große Grundstück der vor sechs Jahren gegründeten Bürgerstiftung Renningen vermacht. „Und da standen wir dann“, erinnert sich Renningens Alt-Bürgermeister und ehemaliger Landrat von Böblingen, Bernhard Maier, „und haben überlegt, was wir nun tun. Natürlich haben wir uns sehr gefreut, aber mit einer so großen Erbschaft hat die noch junge Bürgerstiftung ja keinerlei Erfahrung gehabt.“

Zunächst galt es, den Nachlass zu regeln und den Haushalt aufzulösen. „Bei der Durchsicht der Papiere haben wir nach und nach begriffen, wie einsam Ursula Mathes gewesen ist und wie überfordert sie letztendlich mit ihrem Haus und dem großen Garten war.“ Diese Erkenntnis hat die Ehrenamtlichen der Bürgerstiftung zutiefst getroffen. Sie beschlossen, das Erbe im Andenken an Ursula Mathes für den Bau eines besonderen Seniorenhauses zu verwenden.

Gegen die Vereinsamung im Alter

„Zwischen dem Alleinleben im Alter und dem Pflegeheim gibt es noch etliche Stufen“, findet Maier, „mit unserem Konzept wollten wir eine Lücke für diejenigen schließen, die mit der eigenen Immobilie im Alter überfordert, aber noch viel zu selbstständig für ein Pflegeheim sind.“ Und vor allem will die Bürgerstiftung, in deren Besitz das Haus bleibt, mit diesem Projekt der Vereinsamung im Alter entgegenwirken.

Beim Bau sind viele Ideen eingeflossen. Die zwei Gebäude sind durch ein großzügiges, lichtdurchflutetes Treppenhaus verbunden, auf jeder Etage ist ein mit Sitzgelegenheiten und Pflanzen ansprechend eingerichteter Vorplatz entstanden. „Ein zusätzliches Wohnzimmer direkt vor der Wohnungstür“, sagt Helga Elbers und schmunzelt, „ein Treffpunkt zum Plaudern.“ Im Vorraum der Kellerräume stehen zwei Fitnessgeräte, der Platz ist gut genutzt. Die Teppiche und die Gemälde an den Wänden der gemeinschaftlich genutzten Flächen stammen aus dem Nachlass von Ursula Mathes, die so ein bisschen mit in das neue Haus eingezogen ist.

Erstes Beschnuppern im Dezember

Im Dezember 2019 haben sich die zukünftigen Bewohner bei einer Weihnachtsfeier im da schon fertiggestellten Gemeinschaftsraum kennengelernt. „Da haben wir Mieter uns zum ersten Mal beschnuppern können“, erinnert sich die Seniorin. Doch pünktlich zum Einzug im März suchte die erste Coronawelle die Welt heim. „Das hat das Kennenlernen und vor allem die gemeinsamen Aktivitäten ziemlich erschwert“, bedauert sie. Viele Pläne der Senioren für ihre Hausgemeinschaft können noch nicht umgesetzt werden. „Aber die Ideen gehen uns nicht aus“, sagt Helga Elbers und lacht. Doch bis jetzt bleibt den Bewohnern im Großen und Ganzen nur der bequeme Versammlungsort vor der Wohnungstüre. Und aller Schwierigkeiten zum Trotz, man kennt sich, man hilft sich und man passt aufeinander auf. „Hier lernt einer vom anderen“, beschreibt Helga Elbers das Zusammenleben, „wir ticken alle anders, haben unterschiedliche Erfahrungen und Meinungen. Aber wir üben uns in Toleranz, und das funktioniert sehr gut.“

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Sie klingelt kurz bei der Nachbarin. Die öffnet die Tür und erklärt sofort: „Helga, ich kann grad nicht, der Jürgen will gleich rüberkommen und mir beim Einstellen des Fernsehers helfen.“ Bernhard Maier kann sich das Lächeln nicht verkneifen. „Genau das ist es“, sagt er enthusiastisch, „das wollten wir erreichen. Dass sich die Bewohner gegenseitig unterstützen und sich eine Gemeinschaft entwickelt.“

Lebendiges Miteinander

Das Ursula-Mathes-Haus ist eben kein betreutes Wohnen, sondern ein Haus für Senioren, die fit sind, sich selbst versorgen können, selbstständig leben und mit Gleichgesinnten ein lebendiges Miteinander aufbauen wollen. Gleichzeitig wird Wohnraum für Familien frei, egal, ob die zu beschwerlich gewordene Immobilie verkauft oder vermietet wird.

„Mit unserem Konzept haben wir einen Nerv getroffen“, ist der Ex-Schultes überzeugt, es gab deutlich mehr Bewerbungen als Wohnungen. Für Bernhard Maier ist die Sache klar: „Wir haben gesehen, dass der Bedarf für unser Modell da ist und würden gerne noch so ein Haus bauen“, verrät er, „wenn sich ein geeigneter Platz findet.“ Das wird schwer, denn die Lage des Hauses in einem Wohngebiet, das durch die umliegenden großen Gärten fast schon parkähnlichen Charakter hat, ist einmalig in der Stadt. Auch beim Bau des Ursula-Mathes-Hauses wurde viel Platz für Grünflächen und lauschige Treffpunkte im Garten gelassen.

Die anfänglichen Befürchtungen der Nachbarschaft sind durch die behutsame, zurückhaltende Bauweise und die angepasste Größe des Ursula-Mathes-Hauses, das viel mächtiger hätte ausfallen können, zerstreut worden. „Eine rundum gelungene Sache“, findet Helga Elbers und macht sich auf den Weg ins Treppenhaus, um mit ihrer Nachbarin zu plaudern.