Es klingt wie eine Lokalposse: Ein Seniorenzentrum in Südbaden und das Landratsamt streiten sich, ob eine Cafeteria in Corona-Zeiten öffnen darf. Das Ganze landet sogar vor Gericht. Nun melden sich immer mehr Seiten, die hier ein ganz grundsätzliches Problem sehen.
Steinen - Der Streit um gemeinsames Essen geimpfter Senioren in Corona-Zeiten in Südbaden bekommt immer mehr bundesweite Relevanz. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe forderte am Montag Lockerung der Corona-Einschränkungen für geimpfte Heimbewohner und warnte vor Grundrechtsverletzungen. „Es ist ganz grundsätzlich eine Frage, ob die sehr restriktiven Einschränkungen, die in Seniorenheimen gelten, überhaupt vertretbar sind“, erklärte Kuratoriumsmitglied und Sozialpolitik-Professor Frank Schulz-Nieswandt. „Denn auch Heimbewohner haben das Recht, zumindest mit darüber zu entscheiden, ob und in welche Gefahr sie sich bringen wollen, um etwa Freiheitsrechte nicht gänzlich zu verlieren.“
Das Seniorenzentrum Mühlehof in Steinen (Landkreis Lörrach) möchte seine Cafeteria wieder öffnen, damit die Senioren zusammen essen können. Dafür war der Anwalt bis vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hat nach einer zunächst abschlägigen Entscheidung einen Vergleichsvorschlag vorgelegt den Betrieb der Cafeteria für geimpfte oder genesene Bewohner und Mitarbeiter erlaubt. Er hatte das mit einer Neueinschätzung des Robert Koch-Instituts begründet, wonach Geimpfte kaum noch ansteckend seien. Das Seniorenzentrum nahm den Vorschlag am Montag an.
Das Seniorenzentrum erwarte mit Spannung, ob auch das Land den Vergleich annehme, sagte Anwalt Patrick Heinemann. „Das gilt umso mehr, als die aktuell geplante Novelle des Infektionsschutzgesetzes keine Erleichterungen für geimpfte Seniorinnen und Senioren in Einrichtungen der Altenhilfe vorsieht, sondern die bestehenden undifferenzierten Kontaktgebote nunmehr in ein Bundesgesetz überführen soll.“ Das sei aus seiner Sicht klar verfassungswidrig.
Eine Reaktion des baden-württembergischen Sozialministeriums stand am Montag noch aus. Es hatte das Bundesgesundheitsministerium um eine Stellungnahme gebeten. Laut Vorgabe des Gerichts vom vergangenen Freitag muss das Land sich bis Montag, 24.00 Uhr, äußern.
Die Entscheidung hat aus Sicht des Landesseniorenrats Relevanz für ganz Baden-Württemberg. „Die Frage ist, wann erreichen wir wieder Normalität in Pflegeheimen und beim betreuten Wohnen“, sagte der Vorsitzende Eckart Hammer der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart.
Der Unterschied sei wichtig, weil die Menschen im betreuten Wohnen - wie im Fall Mühlehof - als einzelne Haushalte gelten. Bewohner eines Pflegeheims hingegen seien eine Hausgemeinschaft, erläuterte Hammer. Gerade hier verbrächten viele nur noch ein bis zwei Jahre vor ihrem Tod. Daher sei es wichtig, sie am sozialen Leben teilhaben zu lassen.
An der Entscheidung könnten sich auch andere Einrichtungen orientieren, sagte Hammer. Gerade in den Pflegeheimen seien im Schnitt 80 bis 90 Prozent der Bewohner gegen Corona geimpft.
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, hatte schon gesagt, nach 13 Monaten Lockdown seien alle 900 000 Pflegeheimbewohner in Deutschland in einer entsetzlichen Situation. Er warf dem Land „winkeladvokatisches Vorgehen“ vor.
Das Kuratorium Deutsche Altershilfe warf die Frage auf, inwieweit die beanstandeten Grundrechtsbeschränkungen tatsächlich Corona geschuldet seien und inwieweit sie mit den strukturellen Problemen in der Pflege zusammen hingen. „Es ist offensichtlich, dass etwa die an sich absolut angebrachte Befragung jedes einzelnen Heimbewohners zu seiner persönlichen Situation vor der Verhängung von freiheitsbeschneidenden Maßnahmen schon aus Gründen des Personalmangels gar nicht möglich gewesen wäre“, erklärte Schulz-Nieswandt. Grundsätzlich müsse die Gesellschaft die Frage beantworten, ob „Kasernierung“ das Modell der Zukunft sein solle oder im Alter lebenslanges, eigenverantwortliches Zusammenleben in Gemeinschaft ermöglicht werden sollte.