Ein Praktikant entdeckt 297 Zeichnungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dem berühmten italienischen Kupferstecher und Architekten Piranesi zuzuschreiben sind. Karlsruhe würde damit über den größten Bestand des Künstlers weltweit verfügen.

Stuttgart - Was für schöne Alben! Ein großes Querformat, gut sechzig Zentimeter breit, mit marmoriertem Papier prächtig eingebunden, und mit Abständen zwischen den Blättern, damit es nicht bricht, wenn man viel darin blättert: ein wahrer Schatz an Zeichnungen, die auf die Seiten geklebt sind, manchmal vier auf einer Seite.

 

Rosetten, von vorne und von der Seite, damit man sie sich auch plastisch vorstellen konnte, Statuen, Vasen, ein Fuß von vorne, ornamentale Details, antike Reliefs, Studien nach römischen Plastiken. Zwei geflügelte Löwen von der Seite, ihre Tatzen liegen auf einer Schale. Manches ist penibel ausgeführt, mit allen Einzelheiten, anderes eher hingestrichelt. Manche Rosetten in Rötel sind so lebendig, dass sie fast aus dem Bild springen. Manches mit Feder oder Pinsel gezeichnet, anderes in Grafit und Kreide ausgeführt.

Die Alben sind eindeutig eine Art Skizzenbuch für jemanden, der sich mit Architektur beschäftigt. Und dann sind da zwei Zeichnungen, zwei Capricci, die aus dem Studiencharakter rausfallen: zwei frei fantasierende Tuschezeichnungen, ein wildes Gewusel von Brücken und Bögen und einem dunklen Innenraum mit Kuppeln und Vorhängen. Man stutzt ein wenig, weil sie so gar nicht zu den anderen, genau ausgeführten Zeichnungen passen wollen. Und blättert weiter.

Der Zufall spielt dem Praktikanten in die Hände

Einer, der nicht weitergeblättert hat, ist Georg Kabierske. Der 21-Jährige, der in Heidelberg Kunstgeschichte studiert, absolvierte letztes Jahr ein vierwöchiges Praktikum in der Kunsthalle Karlsruhe, im Kupferstichkabinett. Sein Vater ist Architekturhistoriker an der Universität Karlsruhe und kennt sich mit Friedrich Weinbrenner aus, dem klassizistischen Baumeister und Stadtplaner, der Karlsruhe Anfang des 19. Jahrhunderts neu gestaltet hat.

Und „Weinbrenner” steht auch ganz groß auf dem Vorsatzblatt der beiden Alben, die im Kupferstichkabinett liegen: Nach Friedrich Weinbrenners Tod 1856 gingen sie an den Großherzog. Also wurden sie immer als Studien von ihm angesehen, da er sich von 1792 bis 1797 auch in Rom aufhielt.

Und dann gab es diesen einen Zufall, der bei solchen Entdeckungen oft so eine große Rolle spielt: Der junge Praktikant hatte sich auch mit Giovanni Battista Piranesi beschäftigt, in der Schule ein Referat über ihn gehalten. Und jetzt sieht Kabierske plötzlich, dass diese beiden wilden Capricci gar nicht von Weinbrenner sein können.

Der typische Federschwung, mit dem die Kreideskizzen überarbeitet wurden, die lockere Zeichenart: Das kann nur Piranesi sein. Also begann er nachzuforschen und entdeckte, dass die Blätter aussehen wie andere Capricci von Piranesi, wie eines mit Brücken und Türmen in der Courtauld Gallery in London. Sind vielleicht die anderen Zeichnungen auch von ihm? Das wäre eine Sensation.

Detektivische Kleinarbeit

Und es ist eine. Zeichnungen von Piranesi sind selten: Wenn die Vermutung richtig ist, hat die Kunsthalle jetzt weltweit den größten Bestand an Piranesi-Zeichnungen. Giovanni Battista Piranesi, der von 1720 bis 1778 lebte, war vor allem als Kupferstecher berühmt, seine Werkstatt sehr produktiv, aber Zeichnungen hat er selber kaum aus der Hand gegeben: Für den Künstler waren sie als Vorstudien wichtig, Arbeitsmaterial für die Stiche, sein Fundus.

Das einzige, was er erlaubte, waren sogenannte „Abklatsche”: mit feuchten Papierbögen wurden schwache Abdrücke der Originale gemacht und mit der Hand ergänzt. Die meisten seiner Zeichnungen sind erst nach seinem Tod auf den Markt gekommen. Weinbrenner könnte sie von Piranesis Söhnen gekauft haben.

Die Indizien, die der Praktikant Georg Kabierske in detektivischer Kleinarbeit zusammengetragen hat, in den Alben selber und in Archiven in London oder New York, deren Piranesi-Bestände glücklicherweise zum großen Teil digitalisiert sind, weisen darauf hin, dass die Zeichnungen aus beiden Alben tatsächlich von Piranesi selber oder aus seiner Werkstatt stammen. Kabierske hat auch herausgefunden, dass die Figuren, Vasen oder Ornamente aus den Alben auf seinen Stichen auftauchen. In einem Aufsatz für das renommierte Fachorgan „Master Drawings” hat der Student seine Funde beschrieben und versucht, seine Theorie zu beweisen.

Internationale Experten untersuchen den Fund

Die genaue Untersuchung der Alben ist jetzt in vollem Gang. Die Kunsthalle, seit vielen Jahren auch für ihre wissenschaftliche Präzision jenseits aller Hypes bekannt, hat einen wissenschaftlichen Beirat gebildet, zu dem später noch internationale Experten dazustoßen werden.

Irene Brückle, eine weltweit anerkannte Koryphäe der Papieruntersuchung und Professorin an der Kunstakademie Stuttgart, untersucht jetzt schon penibel das Papier und den Leim. Es soll eine eigene Forschungsstelle an der Kunsthalle eingerichtet und in etwa zwei Jahren ein internationales Symposium veranstaltet werden, die Blätter werden digitalisiert. Und natürlich wird es auch eine Ausstellung geben, aber vorher kommt die Forschung: In Karlsruhe ist man genau.

Manche Zuschreibung wird korrigiert

Georg Kabierske, den die Kunsthalle stets gelobt und gefördert hat (leider keine Selbstverständlichkeit), hat mit dem Fund der 297 Zeichnungen den weltweiten Bestand von Piranesi-Zeichnungen auf einen Schlag um mehr als fünfzig Prozent erhöht. Aber dieses aufregende Erlebnis an sich ist nicht alles. Denn für ihn und Dorit Schäfer, die Leiterin des Kupferstichkabinetts, ist vor allem hoch spannend, wie diese Alben die Kunstgeschichte verändern werden, welchen neuen Einblick man in Piranesis Werkstatt und in die Rezeption haben wird: „Das fächert sich auf in alle Richtungen, die Fragestellungen nehmen kein Ende”, sagt Dorit Schäfer.

Und auch Kabierske schwärmt von den möglichen Verknüpfungen und der neuen Sicht auf Piranesi. So gibt es jetzt zu Piranesis damals sehr begehrten Kandelabern erstmals auch exakte Vorzeichnungen, und für die einzige Kirche, die Piranesi je gebaut hat, Santa Maria del Priorate, fand Kabierske drei oder vier neue Vorzeichnungen – vorher gab es neun.

Und so manche Zuschreibung in den großen Museen hat er jetzt, ganz nebenbei, auch noch korrigiert.