Startpunkt der politischen Karriere des Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir war der Bahnhof von Bad Urach. StZ-Autor Armin Käfer erzählt, wie alles begann.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Es ist eine eher triste Gegend am Stadtrand von Bad Urach, die offiziell „Beim Tiergarten“ heißt. Da kreuzen aber nur Busse, keine Spur von Tieren. Der Name erinnert an Pläne des württembergischen Herzogs Christoph, der hier mal Gemsen ansiedeln wollte. Doch das ist lange her. Auch der Bahnhof hat schon bessere Zeiten erlebt. Es ist schwer, ihn hier überhaupt zu finden. Hinter den Muschelkalkfassaden, wo einst Pakete verfrachtet und Fahrkarten verkauft wurden, treffen sich jetzt gelegentlich Jugendliche, die für Musikgruppen wie „Johanna & Band“ oder „Red Iris“ schwärmen. Davon künden verblichene Plakate. Ein kleines Schild weist Richtung Freibad, ein noch kleineres zeigt an, dass es sich bei dem verwaisten Bau tatsächlich um den Bahnhof handelt. Es rauschen selten Züge vorbei, nur der Verkehr auf der Bundesstraße 28. Deren Trasse verläuft da, wo ehedem Fahrgäste auf die Ermstalbahn warteten.

 

Am Bahnhof von Bad Urach kam Özdemirs politische Karriere ins Rollen

Wenig deutet darauf hin, dass es sich um einen Schauplatz der Politik handeln könnte. Am Mast einer Straßenlaterne klebt ein gelber Handzettel. „Europäer, schmeiß’ die Amis raus, werd‘ wieder Herr im eignen Haus“, heißt es da. Auf dem Zettel ist ein schwarzer Teufel zu sehen, der ein Blatt Papier aufspießt, das mit vier Buchstaben bedruckt ist: TTIP. Mit Filzstift hat jemand unter die unerwünschten „Amis“ geschrieben: „und Flüchtlinge“.

Am Bahnhof von Bad Urach hatte die politische Karriere des Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir ihren Ursprung. Auch das ist lange her, wenn auch nicht ganz so lange wie die herzogliche Idee mit dem Tiergarten. Genau genommen war der Bahnhof damals schon kein richtiger Bahnhof mehr. Nach 1976 hielten da nur noch unregelmäßig Personenzüge, 1989 wurde er stillgelegt. Dagegen richteten sich Özdemirs erste politische Aktivitäten. Er hatte sich einer Bürgerinitiative angeschlossen, welche die seit 1873 durch das Ermstal dampfende Bahn am Leben erhalten wollte. Die Bürgerinitiative gab es schon, als die Grünen im Herbst 1981 einen Ortsverein gründeten.

Typisch deutscher Kindheitstraum: „Ich wollte Schaffner werden, lieber noch Lokführer“

Özdemir, der Türkenbub, dessen Eltern sich Anfang der sechziger Jahre als Gastarbeiter in Bad Urach kennenlernten, hatte einen typisch deutschen Kindheitstraum: „Ich wollte Schaffner werden“, erzählt er, „lieber noch Lokomotivführer.“ Seine Mutter pendelte mit der Ermstalbahn nach Dettingen, wo sie in der Papierfabrik beschäftigt war. Da durfte er mal mitfahren, was er wie einen Initiationsritus erlebte. Der Kindheitstraum erfüllte sich Jahre später. Mit der Bürgerinitiative, die für den weiteren Betrieb der Bahn kämpfte, organisierte Özdemir Sonderfahrten mit einem Museumszug. Da konnte er die Schaffnerkelle schwingen. Die Antiquarin Irmgard Zecher, grünes Urgestein aus Metzingen, beschaffte ihm eine passende Bahnuniform aus ihrem Trödlerladen.

In Özdemirs politischer Biografie steht vor dem Uracher Bahnhof der Lehrer Manfred Simader. Der unterrichtete ihn an der Realschule. Eine umfängliche Hausarbeit weckte Özdemirs Interesse an Politik. Er sollte sich zwei Wochen lang die „Tagesschau“ ansehen und dann vor der Klasse vortragen, was in der Zeit Wichtiges passiert ist. Der Pädagoge Simader hatte selbst eine politische Vergangenheit. Er war ein klassischer Linker der Nach-68er-Zeit, in seinem Denken orthodox und ideologisch streng. Er hegte Sympathien für den Sowjetkommunismus. Özdemir ist ein anderer Zug in Erinnerung geblieben: Simader habe ihn zu widersprechen gelehrt. „In unserem türkischen Muttersprachenunterricht waren wir das nicht gewohnt“, erzählt der Grünen-Chef. Da habe er einmal Zweifel angemeldet an der gloriosen Vergangenheit des Osmanischen Reiches. „Prompt setzte es eine Ohrfeige.“

Chefredakteur der Schülerzeitung „Spickzettel“

Ein Wegbegleiter Özdemirs zu Zeiten, als er noch ein politisches Greenhorn war, hieß Hans-Martin. Er war gleichen Alters und wie Özdemir Schülersprecher, ging aber aufs Gymnasium. Dort fungierte er auch als Chefredakteur der Schülerzeitung – wie Özdemir an der Realschule. Dessen Blatt hieß „Spickzettel“, das gymnasiale Pendant „Schinderhannes“. Mit einem Augenzwinkern bemerkt Özdemir: „Man hört gleich den intellektuellen Unterschied.“

Jener Jugendfreund prägte Özdemirs eher pragmatische Orientierung auf dem weiteren Weg durch die Welt der Politik. Hans-Martin nahm seinen Kumpel Cem mit zu einem „Politischen Arbeitskreis“, der sich in den Räumen des Evangelischen Dekanats traf. Dort sollte der noch-nicht-grüne Nachwuchspolitiker einen Vortrag zur Opposition im salvadorianischen Bürgerkrieg halten. „Damit wurden die Grundlagen gelegt, dass aus mir kein Ideologe wird“, sagt Özdemir. Als er sich auf das Referat vorbereitet habe, sei ihm beinahe schwindelig geworden angesichts der vielen Fraktionen und Sektionen, in die sich der Widerstand zergliedert habe. „Mir war klar: So wird das nix mit der Weltrevolution, wenn man sich nur mit sich selbst beschäftigt“, spöttelt Özdemir. „Ich hatte auch zu wenig Zeit, um Fundi zu werden“, sagt er, „schon damals hatte ich keine Lust, nur zu theoretisieren.“

Grüne Politik ganz konkret: Wertstoffsammelstelle im Keller der Eltern

So begann seine Karriere als Grüner sehr konkret: Gemeinsam mit Gesinnungsgenossen entwickelte Özdemir ein Müllkonzept für Bad Urach. Im Keller seines Elternhauses richtete er eine Sammelstelle für Alufolie ein. Bis es der Mutter zu viel wurde. Sie schimpfte: „Wir sind doch nicht hierher gekommen, um den Deutschen die Mülltrennung beizubringen.“

Inzwischen ist Frau Özdemir aber sehr stolz auf die politische Arbeit ihres Sohnes. Das berichtet ihm eine Passantin, die er beim Spaziergang durch die Uracher Altstadt trifft. Sie ist Kundin in der Änderungsschneiderei seiner Mutter. Die betreibt sie auch mit 83 noch. Auf ihren Unruhestand angesprochen, antworte sie stets: „Ich bin nach Deutschland gekommen, um zu arbeiten.“ Die Werkstatt hat sie mit Zeitungsartikeln dekoriert, in denen Cem die Hauptrolle spielt. Sie liegt unweit des Bahnhofs, an dem dessen Aufstieg zum Politiker ins Rollen kam.

Der Station steht eine ökologische Zukunft bevor. Seit 1999 halten dort wieder Züge. Das allein ist kein Erfolg aus grüner Sicht, denn die werden von Dieselloks gezogen. Nun soll die Strecke elektrifiziert werden. Das verdankt Özdemirs Heimatstadt einer politischen Entscheidung, welche den Grünen allenfalls wegen eines Nebeneffekts akzeptabel erschien. 2015 hatten die Ministerpräsidenten sich ein verschärftes Asylrecht mit höheren Bundeszuschüssen für regionale Verkehrsprojekte abkaufen lassen. Davon wird auch Özdemir profitieren, wenn er, befördert von einer E-Lok, heim zu Muttern fährt.