Clytus Gottwald lebt für die Musik. Trotz seiner Erfolge lehnt er sich auch im hohen Alter nicht zurück. Für seine Verdienste ist er nun mit einer besonders großen Auszeichnung geehrt worden.

Ditzingen - Musik ist das Leben von Clytus Gottwald. Der bald 89-Jährige gilt als Vater des modernen Chorgesangs und leitete mit seiner Schola Cantorum ein bekanntes, 16- bis 18-stimmiges Ensemble, hat zahlreiche Stücke komponiert und als Musikwissenschaftler etliche Handschriftenkataloge für Bibliotheken verfasst. Noch heute transkribiert er Werke für Chormusik. „Für die Zukunft bin ich eingedeckt“, sagt er lachend. Seine Leidenschaft merkt man schon an kleinen Dingen, etwa wenn er den Weg zu seinem Haus in Hirschlanden beschreibt mit „Meine Straße liegt eine Oktave tiefer“. Und das zeigt eine weitere Eigenschaft: Humor.

 

Den bewies er auch am Donnerstagabend, als er für seine „außergewöhnlichen und herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der Geistlichen Musik“ das Bundesverdienstkreuz überreicht bekam. Kurzweilig berichtete er im Ditzinger Bürgersaal etwa von seinem schönsten Erlebnis. Bei einem Freiluftkonzert in Genf sei plötzlich ein Schwarm lauter Mauersegler eingefallen. Der Gesang und die Vogelstimmen „verschmolzen zu einer Art höherer Synthese, einer Art Naturmusik“.

Ungewöhnliche Musik war es auch, die ihn berühmt machte – obwohl es zunächst so ausgesehen hatte, als ob der Zweite Weltkrieg ihn am weiteren Musizieren hindern würde. Schon als Kind spielte der in Schlesien geborene Gottwald Geige, und kam wegen seiner Begabung auf ein neugegründetes Musisches Gymnasium. Doch kurz vor dem letzten Teil des Abiturs wurde er im April 1944 zum Wehrdienst eingezogen, geriet aber wenig später in Gefangenschaft. Er landete in einem Lager in der Nähe von New Orleans, musste hart auf Zuckerrohr- oder Baumwollfeldern arbeiten.

1946 wurde er entlassen. Seine Familie fand er nach langer Suche wieder – und einen Weg, mit seinem Talent Geld zu verdienen. Zwei US-Offiziere waren in das Entlassungslager gekommen, suchten Mitarbeiter für die neu zu gründende Rundfunkanstalt in Stuttgart. „Besser als nichts“, habe er sich gedacht. Während er Teil des Chores von Radio Stuttgart war und Gesang studierte, lebte er in Korntal.

1954 dann ein neuer Abschnitt, er wurde Assistent des französischen Chorleiters Marcel Couraud. Parallel dazu begann er 1955 ein Studium der Musikwissenschaft, evangelische Theologie und Soziologie, komponierte nebenbei ein wenig. 1960 promovierte er über einen Komponisten der Renaissance. Dabei lernte er, Notationen in eine moderne Lesart zu übertragen – was ihm ein weiteres Arbeitsfeld bescherte. Zufällig war er einem früheren Kommilitonen begegnet, und verfasste von da an für die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Handschriftenkataloge. Kein leichter Job, manchmal war unklar, von wann die Noten stammten. Gottwald recherchierte Papiereigenschaften und Wasserzeichen und kniete sich so hinein, dass ihn die Wasserzeichenforscher-Gesellschaft als Dank zum Ehrenmitglied machen wollte. „Das wäre mir aber zu viel der Ehre gewesen.“

1960 gründete er zudem die Schola, die bis 1990 mit rund 80 Ur- und Erstaufführungen fortbestand, Sequenzen einer Aufnahme fanden Eingang in die Musik für den Science-Fiction-Film „2001: Odyssee im Weltraum“. Von 1969 bis 1988 war er zudem Leitender Redakteur für Neue Musik beim SDR. „Ich hab zwar gearbeitet wie ein Pferd, aber das ging“, sagt Gottwald. Mit der Schola habe er die „Chormusik revolutioniert“, sagt sein langjähriger Weggefährte Ewald Liska über ihn. Der Sänger und Musikjournalist ist zudem Mitbegründer des Festivals Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd, dessen Preis Gottwald 2012 erhielt. Gottwald selbst sagt, er wollte mit der Schola die Chormusik modernisieren. Von all seinen Taten war das „das Spektakulärste“. Denn durch weltweite Auftritte lernte er viele Komponisten kennen, sagt er und gibt Anekdoten so detailliert zum Besten, als wären sie gestern geschehen. „Es gab viele Momente, von denen ich dachte, es kann nicht noch besser werden. Doch dann kam noch was Besseres.“

Bei all dem Schönen konnte er es sicher verkraften, dass er 1970 als Kantor der Stuttgarter Pauluskirche „wegen zu moderner Programme mehr oder weniger unsanft entlassen“ wurde. Es sei ihm ähnlich gegangen wie dem Musiker Konrad Kocher, den Gottwald „wieder ans Licht getragen und in die Erinnerung gebracht habe“, so OB Michael Makurath, der auch Gottwalds Verdienste für den Nabu Renningen würdigte. „Beide haben erleben müssen, dass zu viel Innovation in einem pietistischen Umfeld schwierig ist. Aber große Geister müssen eben auch leidensbereit sein.“

Für Gottwald fast zu viel – und er begann seine Rede mit einem Zitat: „Gegen Kritik man man sich wehren. Gegen Lob ist man wehrlos“ – so fühle er sich nun. Und gab zum Ende eine weitere Anekdote preis: Als ihn ein russischer Musiker aus Dank über einen Auftritt der Schola und dem Gefühl von Freiheit „abbusselte“, habe ein Freund gesagt, er solle sich darauf nichts einbilden, das sei so üblich. „Bilde dir nichts ein – das habe ich bis heute beherzigt.“