Frau Gedeck, wie realistisch ist das Zukunftsszenario, das die Serie „Helgoland 513“ entwirft?
Ich hoffe, dass es nicht so kommen wird. Auf der Insel herrscht ein fürchterliches autokratisches System, das vorgibt, den Wert von Menschen messen zu können. All das unter dem Deckmantel eines demokratischen Verfahrens. Die DNA dieser fiktiven Gesellschaft ist geprägt durch Denunziantentum, Mobbing, davon, das jeder gegen jeden steht, dass man sich nicht traut, wirklich seine Meinung zu sagen. Solche Prozesse beobachte ich auch in unserer Gesellschaft: Menschen gehen nicht mehr achtsam miteinander um, haben alle Achtung und Respekt für andere verloren, schauen nur noch darauf, wo sie selbst bleiben. Ich erlebe schon jetzt, wie unsere Gesellschaft brüchig wird.
Sind Sie trotzdem optimistisch?
Ich glaube zwar, dass sich die Auseinandersetzungen, die Kämpfe, die Debatten noch zuspitzen werden, aber auch, dass es noch genügend Gegenkräfte gibt – zumindest in Westeuropa. Ich weiß aber natürlich nicht, welche Regierung nach der nächsten Wahl an die Macht kommt.
Sie spielen in „Helgoland 513“ Beatrice, eine ehemalige Supermarktangestellte, die zur Alleinherrscherin der Insel aufgestiegen ist.
Ja, in Rückblenden erfährt man, dass sie eine einfache Supermarktkasse-Verkäuferin war, die, als diese Seuche über die Welt hereinbricht, das Heft in die Hand nahm, weil sie als Einzige wirklich einen Blick dafür hat, dass jetzt etwas ganz Schlimmes passiert. Sie stellt eine vollkommen hanebüchene und uneffektive Miliz auf, bootet den Bürgermeister aus, holt die Polizei auf ihre Seite, sagt: Wir müssen jetzt handeln, sonst sind wir verloren. Eigentlich beabsichtigt sie was Gutes. Aber 15 Jahre später ist sie Teil einer Maschinerie, aus der sie kaum noch rauskommt und unter der sie selbst leidet. Sie kennt keine wirkliche Nähe, droht an der Einsamkeit zugrunde zu gehen. Ich fand es interessant zu sehen, wie jemand, der eigentlich erfolgreich ist, gleichzeitig auch verloren und unglücklich ist.
Das ist der Stoff, aus dem auch antike Tragödien waren.
Ja, man fühlt sich an griechische Epen wie die Ilias erinnert. Die sind ja in Kriegszeiten entstanden, Krieg, Zerstörung und Tod waren omnipräsent. Es geht stets ums Überleben und darum, Macht zu erhalten oder die Macht auszubauen. Ich sehe da auch Parallelen. Gerade auch in der Figur von Beatrice, die im Verlauf der Serie merkt, dass ihr die Macht wegrutscht. Es beginnt damit, dass sie ihren Sohn, in die Verbannung schicken muss, damit er überhaupt eine Chance hat zu überleben, weil sie ihn sonst sofort hätte töten lassen müssen. Das sind archaische Grundstrukturen.
Die Serie verhandelt aber auch aktuelle Themen wie die Flüchtlingskrise und die Pandemie. Im Zusammenhang mit Corona wurde oft gesagt, dass die Pandemie das Schlechteste oder das Beste im Menschen zum Vorschein bringt.
Ich glaube, das Schlimmste ist, dass die Menschen in einen Zustand der Lähmung, der Schwermut und Unbeweglichkeit rutschen. Weil sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, werden sie nicht nur körperlich, sondern auch geistig träge. Durch das Festgehaltensein gab es eine Art Lebensstopp, man war in seiner Isolation gefangen und wurde auf seine Schwächen gestoßen. Ich habe da viel Leiden gesehen. Bei manchen war es körperlich, bei manchen war es geistig, psychisch, seelisch. Weil der Mensch plötzlich nicht mehr das sein konnte, was er eigentlich ist: ein lebendiges, sich auf andere beziehendes, kommunizierendes Wesen.
Robert Schwentke ist Autor, Produzent und Regisseur der Serie. Ist es einfacher für Sie als Schauspielerin, wenn das alles in einer Hand ist?
Ja, in diesem Fall war das sehr schön. Es ist nicht immer schön. Aber hier haben wir es mit einem Filmschaffenden, mit einem Filmkünstler zu tun, der sehr offen und transparent arbeitet und mit allen auf Augenhöhe kommuniziert. Es gab da keine Machtspiele.
Ist die Zeit der selbstherrlichen, tyrannischen Regie-Dinosaurier vorbei?
Wenn ich vom Film rede, habe ich das persönlich fast nie erlebt. Filmemacher sind immer auf ein Team angewiesen. Deswegen sind das meistens kommunikative Menschen. Es gibt aber auch das andere Extrem. Es gibt im Moment die Tendenz, dass zu viele Köche den Brei verderben. Ich finde es gut, wenn Experten wie Autoren oder Regisseure gibt, die Entscheidungen treffen. Nicht alles sollte immer demokratisch abgestimmt werden: „Ich finde das Kleid sollte lieber blau sein!“ „Nein, ich finde Rot ist schöner!“ Ich will, dass jemand, der eine künstlerische Vision hat, letztlich das Sagen hat.
Und das ist nicht immer so?
Ich erlebe inzwischen immer wieder, dass Produzenten oder Geldgeber, die künstlerisch keine Ahnung haben, bei solchen Entscheidungen mitmischen. Das empfinde ich tatsächlich als toxisch, als zerstörerisch. Wenn der Regisseur nur noch dafür da ist, als Marionette das auszuführen, was die Produzenten sich vorstellen, dann kann man gleich mit KI arbeiten. Darauf bewegen wir uns zu. Wenn das Menschliche, das Individuelle nicht mehr gefragt ist, sondern jemand von außen vorgibt, wie alles gemacht werden muss, dann braucht man keinen Regisseur mehr und auch keine Schauspieler. Dann kann man sich das am Computer selbst basteln.
Sie sind 2023 Mitglied der Motion Picture Arts and Sciences. Das heißt Sie durften gerade zum ersten Mal mitentscheiden, wer die Oscars bekommt.
Stimmt. Das war toll. Plötzlich ist man so Teil einer großen Community. Ich habe mit Freude viele Wochen diese Filme geguckt. Ich habe jetzt einen ganz anderen Eindruck von dem, was filmisch in Amerika passiert, aber auch im nichteuropäischen Ausland, weil ich auch die Dinge sehen konnte, die wir sonst hier nicht zu sehen bekommen. Da gab es tolle Sachen, aber auch Sachen, die sich ein bisschen verrennen und die ein bisschen verrutscht sind.
Haben Sie für Sandra Hüller gestimmt?
Das darf ich nicht sagen, aber ich fand die deutschen Beiträge sehr, sehr, sehr, sehr toll. In diesem Jahr kamen wirklich starke Beiträge aus Deutschland, das gilt natürlich auch für „Das Lehrerzimmer“.
Martina Gedeck und die Serie „Helgoland 513“
Person
Martina Gedeck (62) ist eine der profiliertesten deutschen Schauspielerinnen, war zum Beispiel im mit einem Oscar ausgezeichneten Politdrama „Das Leben der Anderen“ zu sehen und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet – darunter mehrfach mit dem Deutschen Filmpreis.
Serie
Die erste Staffel von „Helgoland 513“ ist von diesem Freitag (15. März) an bei Sky und Wow Streaming verfügbar. Die Endzeit-Serie spielt in naher Zukunft, in der sich Helgoland vor dem Rest der Welt, in der eine Epidemie grassiert, verbarrikadiert. Showrunner ist der aus Stuttgart stammende Hollywood-Regisseur Robert Schwentke („Seneca“).