Schauspiel aus der Türkei und Mosambik: Das Festival Sett zeigt viele Theaterformen

Stuttgart - Sind Schauspielerinnen, die Landarbeiterinnen spielen, Landarbeiterinnen? Und wenn nicht, kann eine anatolische Landarbeiterin dann Schauspielerin werden? Diese Frage bohrte vor knapp zwanzig Jahren in Ümmiye Kocak nach einem Theaterbesuch in ihrem Dorf Arslanköy am südlichen Rand des Zentraltaurus so tief, dass sie eine Antwort finden musste. Das Ergebnis, eine Aufführung des Arslanköy Frauen Theater Kollektiv, begeisterte beim 14. Stuttgarter Europa Theater Treffen (Sett) das Publikum. „Baba ben geldim – Papa, ich bin da“ titelte das Siebenpersonenstück.

 

In der Rolle einer türkischen Ehefrau in mittleren Jahren ist Ümmiye Kocak, die Theatergründerin, zu erleben. Wortreich und energisch faltet sie ihren desolaten Ehemann zusammen, fegt den tratschenden neuen Nachbarinnen über den Mund und seufzt erleichtert auf, als der spätpubertierende Sohn nach Monaten bangen Wartens endlich nach Hause kommt. Die Familie, das wird auch den nicht türkischsprachigen Zuschauern dank deutscher Übertitel schnell klar, ist komplett entwurzelt, seitdem sie auf Geheiß des Gatten vom Dorf in die Stadt gezogen sind. Doch der Ehemann zockt und verleitet den Sohn zum Diebstahl, um die Schulden zu tilgen. Der gelobt nach einer Sozialtherapie Besserung, und auch der Ehemann, dem jeglicher Machismus abgeht, bereut. Quietschvergnügt und unbehelligt von allem agiert indes die demente Schwiegermutter, der eine wahrhaft absurde Rolle zukommt. Trotzdem wird sie keineswegs zur Unperson.

Das Ziel der türkischen Theatertruppe: traditionelle Strukturen aufbrechen

Ernsthaft und humorvoll will das Arslanköy Frauen Theater Kollektiv belehren. Mit dieser Intention hofft Ümmiye Kocak, traditionelle Strukturen aufbrechen zu können. Die Stücke schreibt sie selbst, ihre Themen wie Kinderehe, Missbrauch gegen Frauen und Machismo holt sie aus dem Alltag. Einzigartig in der Türkei: Alle Rollen sind durch Frauen besetzt; Männer bekommen Ziegenfellbärte unter die Nase geklebt. „Ich will den Frauen eine Stimme geben“, sagt die temperamentvolle Ümmiye Kocak in einem Gespräch mit der Theaterwissenschaftlerin Zehra Ipsiroglu. Dass das türkische Publikum Rolle und Mensch, Realität und Fiktion nicht immer auseinander halten kann, hilft der Truppe. „So, jetzt erzähle ich euch mal meine Geschichte“, sagte kürzlich eine Zuschauerin in einem Dorf, setzte sich mitten auf die improvisierte Bühne und erzählte. Mit seinem Besuch in Stuttgart ist das Arslanköy Frauen Theater Kollektiv zum ersten Mal zu einem Gastspiel außerhalb der Türkei.

Dass das Sett immer wieder mit ungewöhnlichen Theaterformen überrascht, erlebte das Publikum auch mit dem Teatro Avenida aus Maputo(Mosambik). In „Ubuntu“ wird erzählt, getanzt, musiziert. „Ich bin, weil wir sind - Eu sou porque nós somos“ - die alte afrikanische Weisheit, dass der Mensch nur in der Gemeinschaft aufgehoben ist, bekommt hier ein farbenfrohes, facettenreiches, vom Publikum mit herzlichem Beifall bedachtes Gesicht. Erzählt (auf Portugiesisch und Deutsch) wird von den Vorurteilen der Weißen gegenüber den Schwarzen, den Überheblichkeiten und Ausbeutungsarten Europas gegenüber Schwarzafrikas.