Maria ist 1989 geboren. Weil es Erziehungsprobleme gab, wurde sie im Alter von elf Jahren in einer psychologischen Beratungsstelle in Polen untersucht. Das Mädchen habe kein Selbstwertgefühl und eine gesteigerte Einbildungskraft, lautete der Befund. Ein Jahr später reiste Maria nach Deutschland, wo ihre Mutter mit dem neuen Mann noch ein weiteres Kind bekam. Was Maria als Teenager erlebt hat, klingt nach einem Albtraum. Auch eine lebensbedrohliche Eileiterschwangerschaft ist aktenkundig. Mit 18 verließ sie fluchtartig die Wohnung der Familie, brach ihre Ausbildung ab und tauchte bei Bekannten in einem anderen Bundesland unter. Dort ging sie zu einer Anwältin und vertraute ihr an, dass sich der Stiefvater in Stuttgart über Jahre hinweg brutal an ihr vergangen habe.

80 Prozent der Opfer von sexueller Gewalt werden zu Hause missbraucht. Der Kinderschutzbund geht von mehr als 10.000 Halbwüchsigen aus, die jedes Jahr von Übergriffen der eigenen Verwandtschaft betroffen sind. Nur wenige können sich vorstellen, was ein Mensch durchmacht, wenn so etwas passiert. Marie-Luise Hepp, Kinder- und Jugendpsychiaterin aus Ludwigsburg, weiß um die seelische Not. Sie hat schon öfter missbrauchte Mädchen behandelt und sie auch während Gerichtsprozessen betreut. "Wer eine Anzeige wagt, riskiert viel", sagt die Ärztin. "Die Betroffenen müssen damit rechnen, dass man ihnen nicht glaubt, sie zu Psychos abstempelt, die schon immer gelogen haben. Sie laufen Gefahr alles zu verlieren, ihre ganze Familie."

Wenn es an Fakten fehlt, müssen die Richter Indizien bewerten


Maria hat es trotzdem gewagt und den Stiefvater angezeigt. Sie lebt heute an einem sicheren Ort, abgeschottet von dem Mann, den sie ihren Peiniger nennt. Sie ist verheiratet und hat einen anderen Namen. Zu ihrer alten Familie gibt es keinen Kontakt mehr. Auch nicht zur Mutter Jelena, weil sie zu Janosch hält und ihre eigene Tochter eine Lügnerin nennt.

Maria hat ein wenig Abstand gewonnen. Sie erzählt offen, wie sie sich zwei Jahre nach dem Urteil fühlt. Ihre Mutter habe ihr geschrieben, dass sie alles zurücknehmen soll. "Sonst hast du keine Familie mehr." Maria sagt, dass es nichts zurückzunehmen gebe. "Mein Stiefvater hat ein Leben lang gelogen. Ich finde es unglaublich, dass er bis heute nicht zu seinen Taten steht."