Tränen des Mitgefühls sind in der Politik erlaubt, die des Selbstmitleids auf keinen Fall – meint unsere Kolumnistin.

Stuttgart - Nun ist es doch wieder passiert. Während er im Park von Schloss Bellevue den Kollegen Barack Obama empfing und die Sommerluft vom Trompetenklang der Nationalhymnen zu vibrieren begann, wurden Joachim Gaucks Augen nass. Obwohl er sich vorgenommen hat, seine Emotionen künftig zu zügeln, weint der Bundespräsident nach wie vor gern und oft. Sei es, dass ihm im niederländischen Breda die Feier zum Jahrestag der Befreiung von der deutschen Besatzung ins Gemüt fährt, sei es, dass er sich in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem vom Holocaust-Schrecken überwältigen lässt oder überraschend als erster Präsident aus dem deutschen Osten neben dem ersten schwarzen Präsidenten aus Amerika stehen darf: es sind Geschichtstränen, die er vergießt.

 

Auch Obama hat nahe am Wasser gebaut. Wir sahen, wie er nach dem Amoklauf von Newton, bei dem 20 Kinder und sechs Lehrer ermordet worden waren, um Fassung rang. Wir sahen ihn aufgewühlt, als er seinen Wahlhelfern dankte, die sich für ihn aufgeopfert hatten. Hier also fließen die Brünnlein, weil der Mann andere, über Gebühr belastete Menschen im Blick hat. Barack Obama weint Verantwortungstränen, Mitgefühlstränen, Zuwendungstränen.

Tränen der Erleichterung nach Ben Wischs Anruf

Das läge Helmut Schmidt fern, der doch so stolz ist auf seine kühle, norddeutsche Natur. Dennoch schoss ihm während seiner Zeit als Bundeskanzler ein einziges öffentliches Mal das Wasser in die Augen. Als sein Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski, der trickreiche Ben Wisch, aus Mogadischu anrief und die Befreiung der Lufthansa-Maschine Landshut kundtat, da weinte der Kanzler. Es flossen Tränen der Erleichterung. In allen diesen Fällen gelten die Zeichen der Rührung den Vorgängen außerhalb der aufgewühlten Person. Aber natürlich weinen Politiker auch über sich selbst, über ihr eigenes Geschick, zum Beispiel wenn sie aus dem Amt scheiden wie Kurt Beck beim Abschied nach langer Regierungszeit.

Richtig zum Heulen kann es auch sein, einem Posten nachzujagen und ihn nicht zu ergattern. Manfred Wörner, der später Verteidigungsminister und sogar Nato-Generalsekretär wurde, weinte mir 1980 ins Mikrofon, weil seine Partei bei der Bundestagswahl nicht zum Zuge gekommen war, er also weiter in der Opposition verharren musste. Dabei hatte er doch erwartet, dass nun etwas Großes aus ihm würde. Es war ein zutiefst narzisstischer Gefühlsausbruch, in dem er entgleiste, ähnlich jenem des aktuellen Kanzlerkandidaten der SPD, der in den vergangenen Tagen vor laufenden Kameras wie ein kleiner Junge die Mundwinkel nach unten zog und der Republik einen Flunsch zeigte. Seine Frau hatte von dem Opfer gesprochen, das er derzeit im Wahlkampf erbringt und von den Kränkungen, die ihm zugefügt werden. Offenkundig stand das alles plötzlich vor ihm, quoll qualvoll auf, ließ ihn die tröstend gemeinte Geste seiner Angetrauten wegstoßen und drückte ihm ein paar Tränen in die Augen – Tränen des Selbstmitleids.

Peer Steinbrück – wie von der Mama verhauen

Es ist ja auch nicht leicht, dass er, der auf Beinfreiheit setzte, sich nun doch so schrecklich verbiegen muss für seine Partei, dass er nicht sagen kann, was er sagen will, dass er in Gedanken und Taten ein ganz anderer zu sein hat, als er ist, und dass er nun in dieser ungesunden Anstrengung sich selbst zu verlieren droht. Darüber kann man schon Tränen vergießen. Aber doch bitte nicht öffentlich, nicht wie ein gerade von der Mama verhauener Neunjähriger. Auf manche Zuschauer mag Peer Steinbrücks Auftritt anrührend menschlich gewirkt haben. Seinem großen Vorbild Helmut Schmidt wäre ein solcher Anfall von Schwäche jedoch nie unterlaufen. Ein Kanzler muss aus härterem Holz geschnitzt sein, er muss Nerven haben, sonst steht er den Job nicht durch.

Natürlich dürfen Spitzenleute wie Helmut Kohl über Deutschland weinen, über die Versöhnung mit Frankreich oder das Schicksal Europas. Das allemal, aber niemals wehleidig und pubertätstrotzig über die eigenen, oft verlustreichen Mühen. Wallungen dieser Art sind frühestens beim Abschiedsklang eines Zapfenstreichs erlaubt, aber doch nicht bevor es richtig losgeht. An der Spitze der Politik ist die Luft eisenhaltig. Das will ertragen sein.

So stahl sich keine heimliche Träne in die Augen Helmut Schmidts, als die SPD ihn wegen der Nachrüstungspläne im Stich ließ. Ebenso beherrscht überstand er das Misstrauensvotum im Bundestag, das Helmut Kohl ins Kanzleramt trug. Auch Gerhard Schröder blieb einigermaßen gefasst nach der knapp verlorenen Wahl von 2005. Beim Fernsehdisput am Abend zeigte er sich zwar unbeherrscht, auch aggressiv im Angesicht von Angela Merkels Sieg, aber geweint hat er nicht. Tatsächlich sollen sogar Angela Merkel schon einmal wegen einer Niederlage im Kabinett die Tränen gekommen sein. Damals war sie Umweltministerin, dazu jung und unerfahren. Doch das liegt weit zurück. Inzwischen ist die Landgräfin hart geworden. Mit Gelassenheit erträgt sie Rückschläge und Schmähungen – daheim wie im Ausland. Was auch geschieht, sie behält den Kopf oben. Wenn da jemand weint, dann ist es auf keinen Fall sie selbst, eher einer ihrer Gegenspieler. In der vergangenen Woche, im Streit über die Beutekunst, könnte es sogar der hochgefährliche Wladimir Putin gewesen sein.