Niemand glaubt wirklich, dass Putin wegen der Sanktionen des Westens nachgeben könnte – meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - An diesem Tag hatte Lothar Späth, der Umtriebige, sein Amt noch nicht verloren, und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten war keineswegs schon fertig gebacken. Es gab reichlich Stoff für allerlei staatstragende Diskussionen in der Republik. Eine davon sollte in Dresden stattfinden. Dorthin flogen wir mit dem Ministerpräsidenten – eine Handvoll Politiker, Unternehmer und Journalisten – und redeten uns während der Reise von Stuttgart bis Sachsen die Köpfe heiß. Alles könne er sich vorstellen, sagte Späth in die Runde, nur, was die Nationale Volksarmee angehe, da habe er keine Ahnung, wie das gehen solle. Niemals würden die Russen sie aus der Hand lassen. An dieser Frage könne die deutsche Einheit noch scheitern. Jedem von uns leuchtete das ein. Und dann ging doch alles ganz glatt über die Bühne. Die NVA löste sich in der Bundeswehr und damit in der Nato auf. Wer hätte das gedacht? Unglaublich. Zauberei. Ein politisches Wunder.

 

Wenig später, während einer Reise nach Polen mit dem Bundeskanzler Kohl, hörte ich im Verlaufe einer Pressekonferenz staunend, was er den Gastgebern versprach: die Aufnahme in das westliche Verteidigungsbündnis und in die Europäische Union. Es schien mir ein reines Lippenbekenntnis zu sein, ein nach außen höfliches, in Wahrheit aber verantwortungsloses Gerede und so utopisch, wie zuvor der Gedanke an die Auflösung der Nationalen Volksarmee. Gleichwohl ist es heute eine Selbstverständlichkeit. Polen gehört der Nato an, und Donald Tusk, der polnische Ministerpräsident, übernimmt sogar die Rolle des Ratspräsidenten in Brüssel. Die Politik steckt eben voller Überraschungen.

Ein Schwarz-Weiß-Film im Kinderzimmer der Weltpolitik

Und erinnert sich jemand, dass bei uns nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein Tsunami des Mitleids aufbrandete? Den ehemaligen Besatzern schien es schlechtzugehen. Also wurde gesammelt, gespendet und verschickt. Die russischen Schwestern und Brüdern sollten nicht darben. Wir wollten helfen und so wie sich nun russische Lkw-Ketten in die Ukraine aufmachen – was auch immer sie transportieren! –, so tuckerten damals deutsche Lastwagen Richtung Osten. Wir hatten Grund, uns dankbar zu erweisen. Wir konnten uns großherzig zeigen. Wir hatten ja auch gesiegt.

Nun aber soll alles vorbei sein? Der Kalte Krieg, ein bleiches Gespenst, auferstanden von den Toten? Vorbei das Geschmuse zwischen Kanzlern und russischen Präsidenten. Die wirtschaftlichen Beziehungen stark gefährdet. Russland wieder zurück als ein Reich des Bösen mit imperialem Anspruch und alle Regeln missachtend. Das fühlt sich an, als säßen wir im falschen Film. Doch es ist der richtige, und es ist ein Film in Schwarz-Weiß. Er spielt im Kinderzimmer der Weltpolitik, wo Mama Merkel und Papa Obama – und mit ihnen ein paar Onkels und Tanten, Großmütter und Großväter – einen ungebärdigen Zögling auf den rechten Weg zurückzubringen versuchen. Erst reden sie ihm lange gut zu, dann streichen sie ihm das Taschengeld, danach darf er die Freundin nicht mehr ins Haus bringen, und das Auto als Geschenk zum Abitur kann er sich auch abschminken – es sei denn, tja, es sei denn, er sieht seine Fehler ein, entschuldigt sich, streut Asche auf sein Haupt und kehrt zurück in den Schoß der Familie und aller Rechtschaffenheit.

Putin kann gar nicht in die Knie gehen

Doch da ist der Junge längst ausgezogen. Er treibt sich herum. Dreht krumme Sachen. Vielleicht erzieht ihn das Leben. Vielleicht scheitert er mit seinem Machtanspruch. Vielleicht will er irgendwann doch heim, aber auf keinen Fall zu so demütigenden Bedingungen. Denn für den Moment hat er gesiegt, endlich einmal, nach tausend Niederlagen. Jetzt soll er wieder derjenige sein, der den Kopf einzieht, dieser Loser, dem Mama und Papa dauernd vorexerzieren, dass sie die besseren Menschen, mit den besseren Konzepten und dem dickeren Geldbeutel sind? Nein und noch mal nein, das tut er sich nicht an. Das kann er sich auch gar nicht antun.

Auf Wladimir Putin übertragen heißt das: dieser sowohl politisch wie persönlich Halbstarke wird sich von Sanktionen nicht beeindrucken lassen. Er ist doch noch mitten in der Pubertät seiner Herrschaft, ist gerade dabei, sich aufzublähen und Eroberungen zu machen. Undenkbar und naiv zu glauben, dass dieser unerwachsene Herr über ein Riesenreich mit Riesenressourcen und Riesenproblemen wegen der Strafen aus dem Westen seine unkeuschen Ziele aufgibt und – für die ganze Welt sichtbar – sogar in die Knie geht. Aber das erwartet im Ernst auch niemand. Die Sanktionen haben einen ganz anderen Sinn. Sie sind Ersatzhandlungen, weil militärisches Eingreifen ausgeschlossen bleibt. So kann man zumindest den ersten Anschein der blanken Hilflosigkeit vermeiden. Außerdem stützen sie den Zusammenhalt in der Familie der Vernünftigen und geben ihr Kraft, die Türe offen zu halten.

Denn irgendwann mag der verlorene Sohn ja erwachsen werden und eine kleine Heimkehr wagen. Im Westen träfe er dann allenfalls auf bisweilen überhebliche Rivalen. Die wahre Gefahr lauert jedoch ganz woanders, und darin sind wir uns nach wie vor nahe. Im islamistischen Terror, der unterschiedslos in Madrid, in London und in Moskau zuschlägt, bekämpfen wir alle miteinander denselben barbarischen Feind.